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Im Herbst 1933 kamen die ersten Touristen nach Presseberichten in England an den See, und sprunghaft stieg die Zahl der Monstersichtungen. Man kann davon ausgehen, dass viele Beobachtungen auf im See treibende Öltonnen und Baumstämme vom Straßenbau zurückgingen, auch auf Stimuli, die den Einheimischen wohl bekannt waren: Otter, Lachse, das Kielwasser von Booten. Zudem hielten sich zu der Zeit (und im gesamten Winter 1933/34) Seehunde im See auf (Northern Chronicle, 6. September, S. 5).

 

Mehrere Seehunde ruhen auf einem kleinen Felsen
Seehunde sind an der schottischen Küste allgegenwärtig und wandern auch regelmäßig in den Loch Ness ein

 

Einzelne Seeanrainer begannen nun, von Sichtungen zu erzählen, die sie vor 1930 gemacht haben wollten, aber jedes Mal reagierte die Gemeinschaft am Loch Ness mit Dementis. Die Anwesenheit eines Ungeheuers war mittlerweile zwar akzeptiert, aber es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es erst seit April 1933 im See war. (Inverness Courier, 3. Oktober 3, S. 5)

 

Als ein Leserbrief im Courier am 10. Oktober, S. 4, behauptete, das Monster sei seit 50 Jahren bekannt, müssen diese Behauptungen die Einwohner am Loch Ness amüsiert, vielleicht sogar erbost haben. Sie wussten, dass es vor Alex Campbells Artikel im Mai 1933 (und seinem früheren Versuch 1930) am See kein Gerede um ein Monster gegeben hatte. Der Inverness Courier brachte am 20. Oktober 1933, S. 6, einen Leserbrief, in dem festgestellt wurde, die Nonnen im Kloster von Fort Augustus würden schon seit 50 Jahren von dem Ungeheuer sprechen. Natürlich war den Einheimischen klar, dass das eine Parodie auf die Leute sein sollte, die „frühere“ Monster meldeten, denn in Fort Augustus gibt es nur Mönche.

 

Campbells Sichtung

Alex Campbell
Alex Campbell (Alter des Fotos unbekannt), ein stetiger Beobachter am Loch Ness

Endlich hatte auch Alex Campbell eine Sichtung: Am 17. Oktober 1933 berichtete The Scotsman, Campbell sei „ein Skeptiker“, der glaube, das Monster sei nur ein Seehund. „Nun berichtet er, er habe vor nicht langer Zeit eines Nachmittags ein Tier gesehen, das seinen Kopf und Körper aus dem See hob, dann stillhielt, dann seinen Kopf von der einen zur anderen Seite bewegte – einen kleinen Kopf auf einem langen Hals –, weil es offenbar dem Geräusch von zwei Kuttern lauschte, die von Kaledonischen Kanal herkamen. Dann erschrak es und tauchte unter. Das Tier war mindestens 9 m lang.“ (Binns, S. 77)

 

Campbell schilderte seine Sichtung auch seinem Arbeitgeber, der Fischereibehörde des Loch Ness. Das Monster sei wenige Tage später noch einmal erschienen, doch „nun war das Licht besser, und in nur wenigen Sekunden konnte ich erkennen, dass das, was ich für das Monster gehalten hatte, nur ein paar Kormorane waren.“ (Binns, S. 77)

 

Campbells Sichtung taucht dann auch in dem ersten Buch, das je über Nessie geschrieben wurde, Rupert Goulds The Loch Ness Monster vor – als ein typisches Beispiel dafür, wie sich Augenzeugen täuschen können!

Campbell war kein Skeptiker!

Doch Campbell, der keinesfalls ein Skeptiker war, sondern bis dahin einer der wenigen, wenn nicht gar der einzige, der überhaupt an ein Loch Ness Monster glaubte, änderte danach seine Geschichte und beeindruckte damit alle Monsterjäger. War seine Sichtung bislang auf den 7. September (in der Zeitung) oder auf den Oktober 1933 (bei Gould) oder gar auf den Oktober 1933 datiert, erzählte er Constance Whyte 1957, sie habe sich am 22. September ereignet. Das Monster sei 9 m lang gewesen, kein Zweifel.

 

Tim Dinsdale erzählte er 1960, die Sichtung habe sich im Mai 1934 ereignet, das Monster sei „mindestens 9 m lang gewesen“. (LNM, S. 97)

Auch gegenüber Nicholas Witchell (S. 80) bekräftigte er das Datum Mai 1934 und die 9 m.

 

Noch im Sommer 1976 gab er gegenüber National Geographic an, er habe das Monster dutzende Male gesehen. Es gibt keinen Zweifel, das Campbell – wenn nicht gleich der Erfinder – so doch der Motor der ganzen Sache in den Jahren 1933 und 1934 war.

 

1933 gibt es die ersten einheimischen Zeugen

Andererseits kamen nun, gegen Ende 1933, die ersten einheimischen Zeugen, die das Monster vor 1933 schon gesehen haben wollten.

Eine Mrs MacDonald erinnerte sich, sie habe im Februar 1932 ein seltsames Wesen im Fluss Ness bei Holme Mills gesehen (das ist fast noch im Stadtgebiet der am Meer liegenden Stadt Inverness). Voneinander abweichende Versionen ihrer spektakulären Sichtung erschienen in vielen Zeitungen (Glasgow Herald, 13. Dezember 1933, Inverness Courier, 12. Januar 1934, S. 5 und 13. September 1935, S. 5, London Times, 15. Dezember 1933, S. 14) Sowohl der Herald wie die Times berichten falsch, die Beobachtung sei erst 1933 gemacht worden und das Wesen sei 3,6 bis 4,5 m lang gewesen und habe Stoßzähne gehabt.

Tatsächlich erinnerte sich Mrs MacDonald an ein „Krokodil“, 1,8 bis 2,4 m lang, mit einem sehr kurzen Hals und langen, mit Zähnen bewehrten Kiefern, wie sie der Daily Mail (29. Dezember 1933) und Gould (S. 38–39) versicherte. Dieses Wesen, was immer es war, hat offensichtlich wenig mit der langhalsigen Nessie zu tun.

 

ein mittelgroßer Fluss im Wald mit einer bewachsenen Insel in der Mitte
Der Ness etwas stromaufwärts von Inverness Zentrum. Hier sollen regelmäßig Seehunde vorkommen

 

Am 12. November 1933 wurde auch das erste Foto von Nessie aufgenommen, das Bild zeigt einen unförmigen grauen Blubb vor Wellenrippeln. Kein Nessie-Experte stimmt mit einem anderen darüber überein, was es zeigt – eine Flosse, den Rücken, den Hals? Da man durch das Monster hindurch die Wellen sehen kann, bin ich sicher, dass der Fotograf, Hugh Gray, eine Doppelbelichtung angefertigt hat.

 

Das erste Foto von Nessie stammt von Hugh Gray
Das erste Foto von Nessie stammt von Hugh Gray

 

Am 9. Dezember beginnt die tägliche Berichterstattung über Nessie in der Londoner Times, der wichtigsten und seriösesten Zeitung des Landes. Ohne Ironie, aber mit viel Liebe zum Detail, werden die jeweils neu gemeldeten Sichtungen aufgeführt.

Die Londoner Presse berichtet

Ganz besonders des Themas Nessie angenommen hatte sich die große Londoner Zeitung Daily Mail. Im Dezember schickte sie einen berühmten Großwildjäger, Marmaduke Wetherall, an den See. Wetherall befragte Zeugen, befuhr den See und fand schließlich innerhalb einer Woche den endgültigen Beweis für Nessies Realität: Fußspuren des Monsters am Ufer.

 

„Das Ungeheuer von Loch Ness ist eine Tatsache, keine Legende“ lautete am 21. Dezember 1933 die Schlagzeile der Daily Mail. Einen Monat später aber verkündete das Britische Museum in London, dass eine Untersuchung der Tappser gezeigt hatte, dass sie alle vom rechten Hinterfuß eines Nilpferdes stammten – sie waren mit einem Schirmständer angefertigt worden. Obwohl immer wieder geäußert wurde, Wetherall habe die Spuren selbst angefertigt, gibt es dafür keinen Beweis.

Dass die Spuren gefälscht waren, war allerdings längst noch nicht bekannt, als der nächsten klassischen Bericht gemeldet wurde, der wie eine Kombination aus dem Schwindel der Daily Mail, und dem zweifelhaften Spicer-Bericht scheint. Beide Male ist angeblich ein Lamm das Opfer der Exkursion, beide Male werden die Fußstapfen am Ufer berichtet.

 

Der Turm von Urquhart Castle, hier soll sich Nessie am häufigsten rumtreiben
Der Turm von Urquhart Castle, hier soll sich Nessie am häufigsten rumtreiben

Arthur Grants Sichtung

Am 5. Januar 1934 fuhr Arthur Grant um 2 Uhr morgens auf der Uferstraße bei Abriachan, als er ein großes Etwas von der Nordseite der Straße herkommend sehen konnte. Es sei so mondhell gewesen, das man „eine Zeitung hätte lesen können“. In mehreren Sätzen überquert das Monster die Straße und verschwindet im Loch Ness. Grant schildert es als Tier mit langem Hals, langem Schwanz, zwei Höckern, den Vorderfüßen einer Robbe und Krokodilbeinen, 4,5 bis 6 Meter lang. Es sei „gewatschelt wie ein Seelöwe“ (Lange, S. 98), „seine Kiefer könnten bequem ein Lamm fassen“

 

Skizze des Monsters von Arthur Grant

 

Mehrere Studenten aus Edinburgh untersuchten den Sichtungsort einen Tag nach der Begegnung und fanden zahlreiche „Abdrücke von Flossen“, sowie am Ufer „Schafswolle und das Skelett einer Ziege“. (Costello, S. 50)

 

Vielleicht war die ganze Angelegenheit ein Schwindel, der Elemente aus Spicer und den neuentdeckten Spuren verband, vielleicht auch eine Fehldeutung, die von der Daily-Mail-Sensation beeinflusst war. Interessanterweise hielten sich damals eine oder mehrere Seehunde im Loch Ness auf – dass 1933 und 1934 alteingesessene Fischer von Seehunden im See berichteten, wird bis heute in den Nessie-Büchern verschwiegen! (Der Inverness Courier, 16.1.34, S. 4 & 5, berichtet, am 13.1.sei ein Seehund im River Ness, am 15.1. bei Fort Augustus gesichtet worden.)

 

Die Zahl der Beobachtungen explodiert

Mittlerweile lassen sich die Ereignisse nicht mehr einfach schildern. Im Schnitt wurde spätestens jeden zweiten Tag eine Beobachtung gemeldet, von Einheimischen wie von Touristen. Zahlreiche dieser Sichtungen sind definitiv Fehldeutungen (so wurde während eines Schneetreibens ein mehrhöckeriges Monster gesichtet, dessen einzelne Höcker miteinander verschmolzen; eine vielhöckerige Nessie folgte einem Trawler, dessen Besatzung nichts merkte ­ alles typische Kielwellensichtungen), häufig dauerten sie mehrere Minuten, manchmal Stunden. Eine solche Dauer ist seither nie mehr gemeldet worden.

Die nächste klassische Sichtung erfolgte am 1. April 1934. Der Londoner Gynäkologe R. K. Wilson befand sich bei Invermorriston, als er etwas Seltsames sah, er nahm mehrere Fotos auf, von denen zwei deutlich genug waren: die berühmten „Surgeon’s pictures“. Wilson weigerte sich stets, Details seiner Sichtung zu berichten (angeblich war er mit einer Geliebten am See gewesen und wollte sie nicht kompromittieren), er weigerte sich auch stets zuzugeben, dass seine Bilder Nessie zeigten.

 

eine ruhige Wasserfläche mit wenigen Wellen, in der Mitte ein Gegenstand unbestimmbarer Größe, aus dem ein langer Fortsatz in einem flachen Bogen nach oben geht und dort wie abgeknickt wirkt
Das als „Surgeon’s Picture“ bekannte Bild vom 1. April 1934.

 

Er wusste, warum. Erst 1994 kam heraus, dass es ein Modell war, und dass der Drahtzieher hinter dem Schwindel Wetherall gewesen war, der sich an der Daily Mail rächen wollte. Obwohl es heute noch Hardliner gibt, die den Schwindel nicht akzeptieren, etwa Coleman, so steht er doch einwandfrei fest.

 

Der Plesiosaurier als Archetyp

Mit dem Bild des Chirurgen gab es ein Archetyp, wie Nessie aussehen musste – vorher wichen die Berichte oft voneinander ab. Nun war Monster endgültig etabliert, der Mythos beeinflusste die Art und Weise, wie Augenzeugen Kielwellen, treibende Baumstämme, Seehunde, Otter und schwimmendes Wild wahrnahmen.

 

… Und Nessie ist seither nicht mehr von unserer Seite gewichen.


Mythen und Schlussfolgerungen

Es zeigt sich durch diese Analyse der zeitgenössischen Quellen, dass viele lieb gewonnenen Klischees, die sich in praktisch jedem Buch über das Ungeheuer von Loch Ness finden lassen, nachweislich falsch sind.

 

1)        Es wurde 1933 keine neue Straße am Loch Ness gebaut.

2)        Das Ungeheuer wurde nicht „seit Jahrhunderten“ schon beobachtet. Wir haben schon gesehen, dass sich 1933 alle Seeanrainer einig waren, dass sie noch nie etwas von einem Loch Ness Monster gehört hatten. Wohl meldeten bereits im Spätjahr 1933 manche Zeugen Sichtungen vor 1930, doch wurde das generell von der Bevölkerung bezweifelt. Erst Constance Whyte schuf die Legende von der Nessie-Tradition 1957 in ihrem Buch More Than A Legend. Natürlich erschien eine Besprechung auch im Inverness Courier (12. April 1957, S. 3). Das Buch habe nur einen schweren Fehler, meinte der Journalist von Loch Ness, es sei falsch, dass es eine Monstertradition gebe.

Der Volksglauben entstand erst 1957

Bis 1957 war das eine anerkannte Tatsache, seither glauben selbst die Menschen am Loch Ness, man habe schon immer von dem Ungeheuer gemunkelt. Als Gould 1934 sein The Loch Ness Monster schrieb, hatte er keinen Zweifel dass, „was immer X [sein Name für Nessie] ist, es kam ursprünglich aus dem Meer.“ (S. 165) Um zu beurteilen, was die Augenzeugen gesehen hätten, sei es nötig, herauszufinden, ob „ein Meerestier den Loch erreichen könnte.“ (S. 6) Er akzeptierte Berichte von 1871, 1903 und 1908 (S. 25; eine dieser Sichtungen beschreibt eindeutig einen Otter, andere sind sehr vage, keine wurde damals der Zeitung gemeldet), schrieb aber andererseits: „Es gibt kein Indiz dafür, dass es mehr als ein Tier im See gibt.“ (S. 34)

Der große holländische Zoologe Dr. A. C. Oudemans, Autor des Klassikers The Great Sea-Serpent (1892) schrieb 1934 das Büchlein The Loch Ness Animal. In diesem Buch geht er davon aus, Nessie erst vor kurzer Zeit in den Loch Ness gekommen war, wohl im Frühjahr 1933, als der River Ness Hochwasser hatte.

Da Oudemans Goulds Buch kannte, in dem dieser Ende 1933 gesammelte frühere Sichtungen von Nessie erwähnte (etwa Mrs MacDonalds Bericht, und den Bericht von Ian Milne), meint er: „nicht zum ersten Mal hat Loch Ness die Ehre, Besuch von einer Seeschlange zu erhalten. … Jedes Mal blieb die Seeschlange nur kurze Zeit; sie verließ den Loch, vermutlich auf die gleiche Weise, wie sie hineingekommen war.“ (S. 6) Oudemans wies darauf hin, dass „Commander Gould annimmt, dass das Tier während eines Hochwassers des River Ness in den Loch gekommen sei“. (S. 8) Oudemans war sich sicher, das sei im März 1933 gewesen. „Eines Tages wird es den See wieder verlassen wollen.“ (S. 15)

Warum wird nicht vom Ungeheuer berichtet?

3)        Es wird generell argumentiert, die Bevölkerung habe mit dem Ungeheuer so viel Aberglauben verbunden, dass die Schotten Sichtungen nicht gemeldet hätten. Doch waren einerseits die Zeitungen von Inverness voller Berichte über Seeschlangen und überlebende Dinosaurier in anderen Teilen der Welt, andererseits berichteten sie über Begegnungen mit unerklärlichen Lichtern über dem Loch, de zumindest ähnlich abergläubisch konnotiert waren. Zudem war Loch Ness seit 1850 ein beliebtes Reiseziel, unter anderem verbrachten Charles Darwin, Königin Victoria, der englische Dichter Dr. Johnson sowie der bekannte Magier A. Crowley Urlaube dort ­ und auch sie berichteten nichts von einem Ungeheuer. (Vgl. dazu meinen Aufsatz in Fortean Studies 7)

 

4)        Das Jahr 1933 und die Geburt Nessies wird in den pro-Büchern stets grob verzerrt, absichtlich oft sogar falsch, dargestellt.

Besondere Verzerrungen sind bei den formativen Sichtungen festzustellen: der Landsichtung der Spicers, Campbells Riesenmonster oder dem „surgeon’s photo“.

 

Die Berichte nähern sich mit der Zeit einander an

Zudem waren die Berichte damals extrem unterschiedlich: Die Mackay sahen etwas undefinierbares, Mrs McDonell ein Krokodil, die Spicers ein otter-artiges Etwas, Arthur Grant eine Art Seelöwe, andere berichteten von saurierartigen Wesen. Die Sichtungen haben wenig Gemeinsamkeiten; der Spicer- und der Grant-Landbericht, beide höchst dubios, haben dann aber das Bild des langhalsiger, vielhöckrigen, saurierartigen Monsters etabliert, dem seither alle Sichtungen folgen. Hätten wir nur das Jahr 1933, könnten wir uns überhaupt kein Bild des Monsters machen, zu unterschiedlich sind die Geschichten. Jeder dieser Seen kann eines Tages, wenn die Umstände dem gewogen sind, zu einem klassischen Monstersee werden.

 

5)        Wie bei Ufos (Kenneth Arnold, Ray Palmer), Bigfoot (Wallace) und dem Bermuda-Dreieck (Ivan T. Sanderson und Vincent Gaddis) steht auch am Loch Ness eine einzige Person mit ihrem Glauben an das Phänomen am Anfang der Legende, die sich erst mit der Zeit entfaltet und vervollständigt.

6)        Zu guter Letzt die einzigen beiden „authentischen“ Berichten von Seeungeheuern im Loch Ness, die vor 1930 auch in zeitgenössischen Medien erschienen:

Loch Ness mit Bergketten an beiden Ufern und der Sonne hinter Wolken am gegenüberliegenden Ende
Wie verschlossen liegt Loch Ness an diesem Abend da. Noch birgt es seine Geheimnisse.

Der erste zeitgenössische Bericht

Den ersten hat Ulrich Magin im Inverness Courier vom 1. Juli 1852, S. 3b, entdeckt:

 

 

„Ein Vorfall bei Lochend

An einem Tag in der letzten Woche, als der Loch Ness völlig ruhig ohne einen Kräusel an der Oberfläche dalag, wurden die Bewohner von Lochend plötzlich in den Zustand höchster Aufregung versetzt, als zwei große Körper erschienen, die gleichmäßig von Aldourie zum gegenüber liegenden Nordufer des Sees schwammen. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind lief herbei, um das ungewöhnliche Schauspiel zu beobachten. Unzählbar die vielerlei Spekulationen, welcher Art diese Tiere angehören könnten; einige dachten, es sei die Meerschlange, die sich dort entlang schlängelte, und andere vermuteten ein Paar Wale oder große Seehunde. Als sich die unheimlichen Objekte dem Ufer näherten, holte man die verschiedensten Waffen herbei, um sie anzugreifen. Die Männer waren mit Beilen in der Art der antiken Kriegsäxte von Lochaber bewaffnet, die jungen Burschen hatten Sensen und die Frauen Mistgabeln …

Zum, Schluss kam ein ehrwürdiger Patriarch zu dem Schluss, das es sich um zwei Hirsche handelte, und lief davon, um seinen alten ‚Niccoiseam‘ (eine Flinte) zu holen, die offenbar seit dem Unglückstag von Blar-nam-magal nicht mehr benutzt worden war. Als die angeblichen Hirsche nahe genug gekommen waren, und unser Held sie gerade ins Visier nahm, und eben feuern wollte, warf er die Flinte plötzlich zu Boden und rief in der wahren Sprache der Berge: ‚Dia Mu’n cuairt duinn, ’s iad na h’eich-uisg a th-ann!‘ [Gott, beschütze uns – das Wasserpferd!] Obwohl sie nicht gerade echte Furcht erregende ‚Kelpies‘ waren, stellten sie sich doch als wertvolles Paar Ponys heraus, die nach Aldourie gehörten, und die möglicherweise um der großen Hitze des Tages zu entgehen Gefallen daran gefunden hatten, sich in die kühlen Gewässer des Loch Ness zu stürzen.

Der Loch ist an dieser Stelle fast eine Meile breit.“

 

 

Da lange Zeit beratschlagt wurde, um was es sich handle, und weil es mit einem Meeresungeheuer, nicht einer einheimischen Seeschlange verglichen wurde, wissen wir durch diesen Bericht, dass es auch im 19. Jahrhundert keine Nessie-Tradition gab.

 

Flussmonster?
Auch so kann aus einem Baumstamm ein Flussmonster werden. Ausgerechnet da, wo man sowieso ein solches erwartet: Auf einer Insel im Ness bei Inverness.

 

Der zweite authentische Zeitungsbericht vor 1930 aus dem Inverness Courier (8. Oktober 1868) wurde von dem Schweizer Forscher Andreas Trottmann entdeckt:

 

 

„Ein fremdartiger Fisch im Loch Ness

Vor einigen Tagen strandete ein großer Fisch am Ufer des Loch Ness etwa zwei Meilen westlich vom Lochend Inn. Weder Name noch Spezies des fremdartigen Besuchers konnten zufriedenstellend geklärt werden, und große Mengen von Landbewohnern gingen hin, um ihn selbst zu sehen und zu untersuchen, aber sie zogen unverrichteter Dinge wieder ab, weil sie nicht herauszufinden vermochten, ob das Monster nun aus dem Wasser kam, ob es amphibisch war oder vom Land. Die Leichtgläubigsten versicherten, dass so ein großer Fisch schon einmal vor vielen Jahren hin und wieder bei seinen Sprüngen im Loch gesehen worden sei, und sie erklärten entschlossen, das Erscheinen seines toten Körpers am Ufer bedeute nichts gutes für die Bewohner – tatsächlich sage seine Anwesenheit Seuchen oder Hungersnöte voraus, vielleicht beides. Zu guter Letzt aber kam ein Herr herbei, der in der Wissenschaft der Ichtyologie bewandert war, und er stellte sicher, dass der fremdartige Besucher nichts anderes war als ein Tümmler von etwa 1,8 m Länge. Wie nun ein Bewohner des Ozeans ausgerechnet im Loch Ness an Land gespült worden war, war die nächste Frage, doch auch sie wurde bald geklärt, denn es stellte sich heraus, dass die Fettschicht fehlte! Der Fisch war natürlich im Meer gefangen und im Loch Ness über Bord geworfen worden. Damit wollte ein Scherzbold wohl die primitiven Bewohner von Abriachan und dem umliegenden Distrikt erschrecken. Der Plan war von vollem Erfolg gekrönt.“

 

 

Beide Berichte haben nicht nur eine natürliche Erklärung, sie belegen beide eindeutig, dass es damals noch keine Nessie-Tradition gab, denn sie spielen nicht darauf an, sondern bezeichnen die gesichteten Untiere als „Besucher“.

 

 


Der erste Teil des Beitrages ist am 20. April 2023 erschienen.


Literatur

BAUER, Henry H.: The Enigma of Loch Ness. Urbana: University of Illinois Press 1986

BINNS, Ronald: The Loch Ness Mystery Solved. Shepton Mallet: Open Books 1983

COSTELLO, Peter: In Search of Lake Monsters. London: Garnstone Press 1974

DINSDALE, Tim: The Leviathans. London: Futura 1976

DINSDALE, Tim: Loch Ness Monster. Forth Edition. London: RKP 1982

FRERE, Richard: Loch Ness. London: John Murray 1988

GOULD, Rupert T.: Loch Ness Monster. London: Geoffrey Bles 1934

MACKAL, Roy P.: The Monsters of Loch Ness. London: Futura 1976

MAGIN, Ulrich: Waves without Wind – Historical accounts of the Loch Ness Monster. Fortean Studies 7, 2001, S. 95-115

OUDEMANS, A. C.: The Great Sea Serpent. Leyden: Brill, Luzac & Co 1892

OUDEMANS, A. C.: The Loch Ness Animal. Leyden: E. J. Brill 1934

THOMAS, Charles: The ‘Monster’ Episode in Adomnan’s Life of St. Columbus, Cryptozoology 7, 1988, S. 38–45

WHYTE, Constance: More Than A Legend. London: Hamish Hamilton 1957

WILLIAMSON, Dr Gordon R.: Seals in Loch Ness. Scientific Report of the Whale Research Institute, No. 39, March 1988: 151–157, Tokyo

WITCHELL, Nicholas: The Loch Ness Story. Lavenham: Terence Dalton 1976

 

Von Ulrich Magin

Ulrich Magin (geb. 1962) beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Kryptozoologie, insbesondere mit Ungeheuern in Seen und im Meer. Er ist Mitarbeiter mehrerer fortianischer Magazine, darunter der „Fortean Times“ und Autor verschiedener Bücher, die sich u.a. mit Kryptozoologie befassen: Magischer Mittelrhein, Geheimnisse des Saarlandes, Pfälzer Mysterien und jüngst Magische Mosel.