“Ich denke, es war ein Wolf“
Es ist 3 Uhr nachmittags, an einem kühlen Dezembernachmittag im Jahre 2018, in einer bergigen Gegend auf einer südlichen Insel eines Inselstaates im Pazifischen Ozean. Die Bewohnerin eines schönen Holzhauses geht in ihren Garten… und traut ihren Augen nicht:
Nur wenige Meter vor ihr steht neben dem Buschwerk eines ausgetrockneten Teichs ein Tier, das sie noch nie in ihrem Leben zuvor gesehen hat. Es hat etwas von einem Hund, mit einer langen, dreieckigen Schnauze. Das Gesicht scheint vom Kopf zur Nase relativ flach abzulaufen. Der mysteriöse Eindringling hat die Größe eines mittelgroßen Hundes, und ist mit einem schwarz-braunen Fell bedeckt. Mit ausgestrecktem Schwanz steht er da – starrt der Frau direkt in die Augen. Offenbar ist er hungrig, denn es sind Rippen zu sehen.
Geistesgegenwärtig ruft die Frau nach ihrer alten Mutter – sie solle doch eine Kamera holen. Doch das verschreckt den sonderbaren Besucher offenbar. Sofort macht er kehrt und verschwindet in einem nahen Hain. Und damit ist der Spuk vorbei.
„Es war definitiv kein Hund“ – so besteht die Zeugin später in ihrem Interview. „Ich denke, es war ein Wolf.“
Darf ich vorstellen: der Shamanu
Uns Kryptozoologen sind derartige Sichtungen bestens bekannt. Doch leider war das gesichtete Tier nicht schwarz gestreift – hatte nichts känguruartiges – und: die gebirgige Insel im Pazifik ist auch nicht Tasmanien. Der Ort der Sichtung lag in Chichibu. Chichibu ist Teil der Saitama Präfektur, und befindet sich unweit von Tokio, der Hauptstadt Japans.
Kein Ort für Kryptiden, so könnte man meinen. Doch dann hat man noch nie vom Shamanu gehört. Shamanu oder Yamainu („Berg-Hund“) , mit diesem Begriff meint man in Japan, je nach Region, damit den Wolf, eine Wolf-Unterart oder gar verwilderte Hunde. Die Etymologie ist hier mal wieder nicht ganz schlüssig. (Japan Times vom 25. Mai 2019). Für die Ainu, Japans ursprüngliche Bewohner, war der Shamanu „ein kleiner heulender Gott“ (Shuker, 1997: 46) Dieser kleine heulende Gott war noch im vorletzten Jahrhundert ein Mysterium. 1884 lesen wir in Murray´s Handbook for Japan:
„Die Japaner sprechen von einem Ōkami, oder wolfsähnlichem Hund, von dem aber, sofern er existieren sollte, die Wissenschaft nichts genaueres weiss… es existiert kein wirklicher Wolf in Japan, aber Canis hodophylax [sic] ist so etwas wie eine schlechte Kopie der europäischen Bestie“ (Knight, 1997: 135)
Dieser mysteriöse „Berghund“ ist mittlerweile zoologische Realität geworden – systematisch als Canis lupus hodophilax geführt und in englischsprachigen Fachaufsätzen auch als „Japanischer Wolf“ rezitiert, stellt er eine kleinwüchsige Unterart des Wolfes. Mit einer Schulterhöhe von gerade mal 35 cm wird Japans „Bonsai-Wolf“ nur noch vom arabischen Wolf untertroffen (Shuker, 2018). Es mag daher nicht verwundern, dass er zuweilen als eigene Art geführt wurde (Matsumara/Inoshima/Ishiguro, 2014: 105). Nach Ansicht von Autor und Redaktion unterliegt Shuker hier einer Fehleinschätzung. Die meisten Größenschätzungen des Shamanu geben eine (wesentlich realistischere) Schulterhöhe von 55 bis 60 cm an. Europäische Wölfe haben etwa 70 bis 90 cm Schulterhöhe.
Japans Wölfe
Auch andere Details aus der historischen Quelle sind nicht richtig. Tatsächlich gab es neben dem zwergigen Canis lupus hodophilax noch eine andere, deutlich größere Wolfs-Unterart auf Japan, nämlich Canis lupus hattai, auch Hokkaidō-Wolf oder Ezo-Wolf genannt. Beide Unterarten teilten sich Japan ziemlich klar untereinander auf – der kleine Japanische Wolf fand sich auf den südlichen Inseln ausgehend von Honshū, Kyūshū und Shikoku, während der größere Hokkaidō-Wolf selbstverständlich auf Japans nördlichster Insel Hokkaidō und kleineren benachbarten Inseln vorkam (Ishiguro et. al., 2010: 320; Matsumara/Inoshima/Ishiguro, 2014: 105).
Ursprünglich war – im Gegensatz zu Europa – das Verhältnis der Japaner zu ihren Wölfen nicht negativ geprägt. Konflikte mit der lokalen Bevölkerung waren selten. Das änderte sich, als vor rund 300 Jahren die Tollwut die Insel erreichte. Doch der große Wendepunkt kam 1854, als Japan sich dem internationalen Handel öffnete und damit aus dem Schatten jahrhundertelanger Isolation heraustrat. Mir ihr kamen westliche Lebensformen nach Japan – darunter auch Viehzucht. Und ab diesem Moment wurden die Wölfe zu einem Problem (Matsumara/Inoshima/Ishiguro, 2014: 105). Mit Jagd und Vergiftung – Methoden nach US-amerikanischer „Plagenberatung“ – stellte man den Tieren nun gezielt nach (Knight, 1997: 130). Daraufhin kamen es zu einem drastischen Rückgang beider Wolfspopulationen – und die Ausrottung ließ nicht mehr lange auf sich warten:
Der große Ezo-Wolf verschwand zwischen 1880 und 1890 – der kleine Honshū-Wolf Anfang des 20. Jahrhunderts (Matsumara/Inoshima/Ishiguro, 2014: 105). Heute gelten beide als ausgestorben. Eigentlich.
Tragisches Ende
Wir schreiben das Jahr 1905. Der 25-jährige Reisende Malcolm Anderson befindet sich in Fernost unter der Patronage des Dukes of Bedford auf der Suche nach exotischen Spezies. Diese sollte er anschließend nach London zur London Zoological Society und dem British Museum of Natural History schicken (Japan Times vom 25. Mai 2019).
Schließlich gelangen Anderson und sein japanischer Begleiter Hoyoshi Kanai in eine abgelegene Region der Präfektur von Nara, in ein Dorf, das im 21. Jahrhundert Higashiyoshino heißt und sich auf der Insel Honshū befindet. Drei Jäger aus der Region haben Wind von Andersons Mission bekommen. Sie suchen die beiden auf und bieten ihnen ihre Trophäe an: ein Wolf, den sie in der Region geschossen hatten. Kurz wird über den Preis verhandelt, dann bezahlt Anderson lächerliche 8 Yen und 50 Sen für das Tier – und schickt den Pelz nach London. Wie Begleiter Kanai sich später in einem Artikel wütend erinnert: „Es war damals unvorstellbar, dass dies der letzte erbeutete Wolf aus Japan war.“ (Japan Times vom 25. Mai 2019).
1905 hatte Anderson das Tier den Jägern für einen Spottpreis abgekauft – heute ist sein Wert unkalkulierbar – denn es war der letzte dokumentierte lebende Vertreter seiner Art (Shuker, 1997: 46).
Der Honshū-Wolf als Kryptid
Wie gesagt: Eigentlich. Denn vor allem der kleine Honshū-Wolf wollte nicht aus der Wahrnehmung der Japaner verschwinden. Allein von 1908 bis 1978 dokumentierte der Forscher Kotaro Hayakama 26 vermeintliche Wolfspräsenzen.
Alle kamen aus dem ehemaligen Verbreitungsgebiet des „Bonsai-Wolfs“, mehr als die Hälfte stammte sogar aus einer relativ konzentrierten Region im Süden von Honshū, die von den Präfekturen Nara, Wakayama und der Kii Halbinsel umschlossen wird. Wolfsgeheul wurde gehört, Spuren oder Exkremente gefunden (mit Haaren, weswegen es kein Hund gewesen sein soll) und in einigen Fällen wurden die Tiere sogar selbst gesichtet (Knight, 1997: 144).
Auch Folklorist Tsuda Matsunae sprach während der Recherche für seine Studie über folkoristische Traditionen in der südlichen Nara Präfektur mit vielen Personen, die behaupteten, in der Vergangenheit Wölfen begegnet zu sein, oder sie zumindest gehört zu haben. Allerdings überzeugte ihn keines der Indizien, die man ihm präsentierte (darunter zum Beispiel eine Pillenbox, die angeblich aus Wolfszähnen bestand).
Sein Fazit: Viele der Sichtungen seien in der Dämmerung oder in der Nacht erfolgt, und nicht am Tag – und selbst dann, wenn sie tagsüber gesehen worden waren, lasse das Gesehene keinen eindeutigen Schluss zu. Keiner der Zeugen habe jemals zuvor einen Wolf beobachtet und könne das gesichtete Tier folglich auch nicht zoologisch einordnen (Knight, 1997: 144).
Honshus Sichtungswelle in den 1930ern
John Knight präsentiert uns ein Sortiment dieser Begegnungen. Viele stammen aus den 1930er Jahren, aus der besagten Region im Süden von Honshū:
- 1932 sah ein Mann bei Hongu einen Wolf auf einer Bergspitze, bei dem es ihm „eiskalt den Rücken herunterlief“
- 1934 wollte bei Ryujin Mura eine Gruppe Holzfäller gar auf ein ganzes Rudel (5 bis 6 Tiere) gestoßen sein, das einem Hirsch hinterherhetzte
- 1934, abermals in Hongu: ein Mann berichtete, dass er einen Wolfs-Welpen gefangen hat. Allerdings ließ er diesen wieder frei, aus Angst, die Eltern würden sein Fehlen bemerken und ihm nachstellen (alle Sichtungen bei Knight, 1997: 144) (Anm. d. Verf.: Wölfe verteidigen den Bau bei Gefahr nicht).
Sichtungen nach 1950
Karl Shuker führt in seinem Artikel, den er dem Shamanu widmet, noch weitere Sichtungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. So jene des Yanai Kenji, der 1993 ein Buch über die japanischen Wölfe schrieb (Visionary Japanese Wolves). Seine eigene Sichtung im Jahre 1964 hatte ihn dazu inspiriert.
Als junger Wanderer stieg er in Begleitung von seinem Sohn und Kollegen auf den Ryogami Berg, als sie ein Geheul hörten. Doch es blieb nicht dabei: sie sahen einen Hundeartigen von der Größe eines deutschen Schäferhundes. Sie konnten das Tier ein paar Minuten beobachten – dann verschwand es. Später fanden sie einen angefressenen Hasen, der offenbar von dem mysteriösen Hund zuvor getötet worden war (Shuker, 1997: 47).
Wie immer bei solchen unbestätigten Sichtungen: so manche Fachleute wie Professor Fujiwara Shizuo sprachen sich dafür aus, dass die drei tatsächlich einen Shamanu gesehen hatten. Andere hingegen hielten einen Deutschen Schäferhund als zu groß für einen Bonsai-Wolf (Shuker, 1997: 47).
Doch die Sichtungen gingen weiter.
1970 will der Journalist Hida Inosuke einen Shamanu in den Omine-Bergen fotografiert haben.(Shuker, 1997: 47)
1985 wurde ein Shamanu-ähnliches Tier auf einer Felswand an einem Staudamm in Nara gesehen (Shuker, 1997: 47)
Geschossene Tiere nach 1905?
John Knight berichtet auch von getöteten und gefangenen Tieren. 1908 und 1948 soll es auf der Kii Halbinsel solche Fälle gegeben haben. Allerdings fiel das Urteil der beteiligten Fachleute – mit Ausnahmen „von einem oder zwei Zoologen“ weitgehend negativ aus (Knight, 1997: 147).
So auch 1970, als vermeintliche Wolfsüberreste von Experten untersucht worden waren – auf lokaler Ebene wurden diese Ereignisse mit großem Interesse verfolgt, auch die regionalen Medien waren daran beteiligt – doch auch hier stand am Ende nichts Genaues fest. Knight konstatiert enttäuscht: „Wie so oft in diesen Fällen, hörte man danach einfach nichts mehr davon“ (Knight, 1997: 147). Offenbar war die Auflösung des Rätsels nicht mehr so spannend.
Nicht unerwähnt bleiben darf allerdings ein konserviertes Shamanu-Exemplar, das 1994 im Kokufu-Machi-Schrein in der Tottori-Präfektur entdeckt wurde. Er wurde behauptet (aber nicht bewiesen), dass dieses Tier im Jahre 1950 geschossen worden war (Shuker, 1997:47).
Hiroshi Yagis historische Begegnung – und seine 19 Fotos
Die spektakulärste Sichtung von Japans kryptiden Wolf musste jedoch Hiroshi Yagi vorbehalten sein. Ihm sollte am 14. Oktober 1996 gelingen, wovon kryptozoologisch Ambitionierte meistens (leider!) nur träumen.
Doch seine Geschichte beginnt 43 Jahre vor der eigentlichen Sichtung. Yagi war damals gerade 19 Jahre alt.
„Ich gehörte dem Bergsteigerclub meiner Schule an, und, nach meinem Abschluss arbeitete ich auf einer Hütte auf dem Berg Naeba”, einem 2145 Meter hohen Vulkan an der Grenze der Präfekturen von Nagano und Niigata.
Eines Nachts hörte er ein mysteriöses Heulen. Er war sich sicher, dass das kein gewöhnlicher Hund war. „Ich wusste, dass es von einem Tier kam, das nicht existieren sollte”. Seit diesem Tag macht sich Yagi auf die Suche nach diesem mysteriösen Tier. (Japan Times vom 25. Mai 2019)
“Ich glaube, dass ich von Gott dazu auserwählt wurde, den Japanischen Wolf zu finden und seine Existenz zu beweisen.“ (BBC.com).
Begegnung am Straßenrand – nach 40 Jahren Suche
1996, mehr als vierzig Jahre später, war Yagi seinem Ziel näher als je zuvor. Es musste ihm als ein Wink des Schicksals erscheinen. Yagi befand sich in Chichibu, einer Region, in der den Wölfen zu Ehre dereinst viele Schreine errichtet worden waren. Früh abends fuhr er auf einer Forststraße. Da sah er plötzlich vor seinem Auto am Straßenrand ein pelziges, kurzbeiniges Tier mit spitzen Ohren stehen (Japan Times vom 25. Mai 2019). Yagi wollte seine Kamera nehmen – nur für einen kurzen Moment – doch dann war das Tier wieder weg.
Doch Yagi gab nicht auf. Er fuhr auf der Landstraße hin und her. Und das sah er den mysteriösen Caniden endlich wieder. Dieses Mal war er vorbereitet. Er schoss 19 Fotos von dem Tier (Shuker, 2018), nur 3 – 4 Meter von ihm entfernt (BBC.com). Er ging sogar noch einen Schritt weiter und bot ihm einen Reiscracker an. „Ich hielt ihn ihm direkt unter die Schnauze. Aber er hat ihn nicht genommen. (…) Ich wollte herausfinden, ob er wie ein wildes Tier roch, doch das tat er nicht. Er hatte keinen Geruch. Und wie ein neugeborenes Baby hatte er kein Wissen und keinen Sinn für Gefahr.“ (BBC.com). Das war dem Tier aber dann endgültig zu viel und es lief zurück in den Wald. Doch die 19 Fotos hatte er in seiner Kamera (Shuker, 2018).
Ein paar von ihnen kann man hier in diesem Link einsehen:
https://ameblo.jp/canisyagi/entry-12501946436.html
Was hat Yagi fotografiert?
Yagis Fotos lösten eine taxonomische Debatte aus. Der Zoologe Yoshinori Imaizumi stellte sich auf Yagis Seite. Für ihn stand fest: das Tier auf dem Foto entspricht im Aussehen einem Exemplar des Honshū-Wolfs, das im National Museum of Natural History im niederländischen Leiden ausgestellt ist (Japan Times vom 25. Mai 2019). Allerdings sprach auch der Zoologe dabei nur von „extremer Wolfsähnlichkeit“, kam aber nicht zu einem endgültigen Schluss, dass es sich bei dem Tier tatsächlich um einen Wolf gehandelt hat (BBC.com). Dennoch nannte Imaizumi das fotografierte Tier Yaken, „Wilder Hund“. (Japan Times vom 25. Mai 2019).
Ferner zitiert Karl Shuker auf seinem Blog das Abstract eines Fachaufsatzes der Zeitschrift Animate aus dem Jahre 2015, den der japanische Wissenschaftler Masazumi Morita zusammen mit Yagi verfasst hat. Größe und Proportionen des Körpers, Kopfes und Gesichts wurden gemessen. Sie seien ähnlich wie jene des ausgerotteten Canis lupus hodophilax. Außerdem wurde das fotografierte Tier mit den Fotos von Skeletten des Honshū-Wolfs verglichen – die Größenverhältnisse kamen einander sehr nahe. Das weise darauf hin, dass „ein Hund ähnlich des C. hodophilax 1996 präsent gewesen ist“ (Shuker, 2018).
Karl Shuker gibt jedoch keine Internetadresse an, wo sich das Paper befindet. Es findet sich erst bei intensiver Webrecherche ein Link, auf dem das Paper erwähnt wird. Ein Abstract, oder einen Volltext, gibt es auf der Seite jedoch nicht.
https://ci.nii.ac.jp/naid/40020642061
Es erhoben sich auch akademische Stimmen, die sich skeptisch gegenüber der Wahrscheinlichkeit äußerten, dass es sich bei dem fotografierten Tier tatsächlich um einen Honshū-Wolf gehandelt hat (BBC.com).
So schön es auch wäre, der endgültige Beweis ist auch Yagis Foto nicht.
Eines kann man dem unermüdlichen Enthusiasten und Forscher jedoch nicht mehr nehmen: mit dem Chichibu yaken hat die lokale Wolfs-Mythologie einen sehr reizvollen Anknüpfungspunkt für ihren Fortbestand im postmodernen Zeitalter gefunden.
Zwei weitere Fotos im Jahre 2000
Ähnlich unklar wie bei Yagis Foto verhielten sich die Dinge auch bei einem Foto vom 8. Juli 2000. Schuldirektor Satoshi Nishida machte auf einer Wanderung in der Oita Präfektur am Sobo-Berg ein Foto von einem mytseriösen Caniden. Es zeigte einen mittelgroßen, grau-schwarzen Hund mit orangen Schattierungen an seinen Beinen und hinter den Ohren. Er teilte die Fotos mit Yoshinori Imaizumi, der schon bei den Yagi-Fotos eine prominente Rolle innehatte. Imaizumi stellte sich abermals auf die Seite des Fotografen und nannte das Tier Sobo yaken, also Wildhund vom Sobo-Berg. (Japan Times vom 25. Mai 2019).
Naoki Naruyama, Professor an Tokios Universität für Landwirtschaft und Vorsitzender der Japanese Wolf Asociation, die sich für eine Wieder-Einführung des Wolfes in Japan einsetzt, ist sich dem nicht so sicher. Es sähe eher aus wie ein deutscher Schäferhund – und ferner zeigten sich Wölfe selten alleine (Japan Times vom 25. Mai 2019).
Interessanterweise berichtet Karl Shuker auf seinem Blog von einem Foto aus dem November gleichen Jahres – der Fotograf heißt aber Aita Nishida (gleicher Nachname, anderer Vorname) und Ort des Geschehens war der Kyushu-Berg. Hier soll es sich um einen verlassenen Shikoku-Hund (eine einheimische Hunderasse) gehandelt haben. Auch hier wurde diese Erklärung vom Zoologen Yoshinori Imaizumi vehement bestritten mit dem Argument, der Haushund hätte ein ganz anderes Fell (Shuker, 2018).
Die Shamanū – Jagd im 21. Jahrhundert: Fotofallen
Hiroshi Yagi, der mittlerweile seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, sucht den endgültigen Beweis für die Fortexistenz des Shamanu immer noch. Aber er ist nicht mehr allein. Zusammen mit 20 anderen Amateuren hat er rund 70 Fotofallen in den Okuchichibu-Bergen installiert, eine Region in der Mitte der Insel Honshū. Einmal pro Woche steigt das Team hinaus, um die SD-Karten auszutauschen (Japan Times vom 25. Mai 2019).
Der Höhepunkt der bisherigen Suche: Am 21. Oktober 2018 hielt eine Kamera drei fliehende Hirsche fest, auf dem ersten Blick also nichts weiter Spannendes. Doch: die begleitende Audiospur nahm ein seltsames Heulen auf. Yagi brachte die Audiospur zu einem akustischen Labor in Tokio. Die Japan Times konnte den Ergebnisbericht einsehen: die Frequenz des „mysteriösen“ Heulens lag bei ungefähr 470 Hertz, fast identisch zur Frequenz eines Timberwolfs, der im Zoo von Hokkaido aufgenommen worden war (465 Hertz). Im Gegensatz dazu liegt die Frequenz des japanischen Shikoku gerade mal zwischen 380 und 410 Hertz (Japan Times vom 13. September 2019).
Die Videosequenz der Fotofalle mit dem begleitenden Heulen kann man auf diesem Link einsehen:
https://www.bbc.com/future/article/20191011-the-hunt-for-japans-ghost-wolves (in der Mitte des Textes)
Zwischenfazit
Der Shamanū – ein klassischer Kryptid
Der „westlich geprägte“ Kryptozoologe erstaunt bei der Präsenz eines caniden kryptiden Phänomens im ehemaligen „Reich der aufgehenden Sonne“. Tatsächlich ist der Shamanu ein klassischer Kryptid, der in vielen Aspekten Erinnerungen an den Tasmanischen Wolf wach werden lässt.
Allerdings haben der ehrgeizige Hiroshi Yagi und seine Mitstreiter es geschafft, der Wissenschaft mit ihren Fotos starke Hinweise auf die Präsenz zu liefern. Damit unterscheidet sich der Shamanu in vieler Hinsicht von seinen kryptiden Vettern: es gibt gestochen scharfe Fotos von einem hundeartigen Tier, das zumindest in seinen Proportionen der Shamanu-These nicht zu widersprechen scheint, und, dieser Kommentar sei mir als fachfremden Laien gestattet, zumindest ein Wolf sein könnte. Nicht weniger. Nicht mehr.
Der ambitionierte Amateur-Ehrgeiz und seine Grenzen
Gleichzeitig zeigen diese Erfolge die Grenzen ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche Debatte: es ist nicht genug, mit Fotos und Audiospuren den Fortbestand eines ausgerotteten Tieres nachweisen zu wollen. Es ist nicht genug, dass die Authentizität der Fotos und die Identität des fotografierten Tieres von einem Experten gestützt wird. Am Ende kann nur ein gefangenes oder totes Tier den aktuellen Status des Shamanu als ausgerottete Unterart widerlegen.
Ferner besteht das Problem, dass biologische und ökologische Argumente in den Berichten über den Shamanu zu kurz kommen. Wie das Beispiel des Iberischen Luchses zeigt, wäre eine kleine Population auf konzentriertem Gebiet der genetischen Degeneration ausgeliefert (Gil-Sánchez, 2016: 281 – 282). Könnte sich so eine Population ohne gezielte Schutzmaßnahmen so lange halten?
„Verhundster“ Kryptid
Und: selbst Biologen stehen vor dem Problem, dass sich die Spuren- und sonstigen Hinterlassenschaften von Wölfen nicht immer (und oft auch gar nicht) von jenen der Hunde unterscheiden (Blanco, 2016: 52). Es sei daran erinnert, dass beide Tiere der gleichen Art angehören. Wenn selbst qualifizierte Fachleute dieses Problem nicht lösen können, dann ambitionierte Amateure oder ahnungslose Augenzeugen erst recht nicht.
Generell sind Hunde als Erklärung ein Problem für die Shamanu-These. Hundegeheul ist ähnlich wie Wolfsgeheul, kann also als Erklärung immer herangezogen werden (BBC.com). Es hilft auch nichts, zu versuchen, den Shamanu aus der Hundefalle mit Hilfe einer These der Hybridierung zu retten. Selbst wenn ein Wolfs-Hund-Hybrid die Erklärung für die Sichtung und (vor allem!) die Fotos stellt, müsste dieser ja auch irgendwo hergekommen sein und bräuchte eine Wolfspopulation im Hintergrund. Und würde sich so eine Wolfspopulation, vor allem wenn sie Rudel bilden würde, nicht irgendwann bemerkbar machen? – wie zum Beispiel vom Zoologen Samuel All vom Lonoder Institute of Zoology angedacht wird (BBC.com) Und haben wir Deutschlands Wölfe über Rissspuren und Sichtungen nicht relativ gut im Blick?
All diese Gegenargumente spielen in den spannenden Artikeln über die Jagd nach dem Shamanu nur eine untergeordnete Rolle. Das heißt nicht, dass sie nicht wichtig sind.
Zum zweiten Teil: Canis (lupus) hodophilax – Japans Wächter, der nicht gehen will
Aufgrund des Umfanges stellen wir das Literaturverzeichnis mit dem letzten Teil des Artikels zum Download bereit.