Ein Abschnitt aus „De Bello Gallico“, Über den gallischen Krieg, des römischen Feldherrn und späteren Diktators Gaius Iulius Caesar, ist für Zoologen und Kryptozoologen von besonderem Interesse.
Im sechsten Buch seines Kriegsberichts geht Caesar auf das Hercynische Waldgebirge ein, das sich in Germanien mehr als sechzig Tagesreisen jenseits des Rheins erstrecke. In diesem Hercynischen Waldgebirge gibt es drei besondere Tiere:
- Erstens ein Rind in der Form eines Hirschs, aus dessen Stirn zwischen den Ohren ein einziges Horn ragt, das höher und gerader ist als alle anderen Hörner. An seiner Spitze verästelt es sich, das sieht so aus wie gespreizte Hände. Männchen und Weibchen gleichen sich, beide tragen das Horn.
- Zweitens leben dort Elche. Sie gleichen den Ziegen und haben ein buntes Fell, sind aber leicht größer. Ihre Beine weisen keine Gelenke auf, deswegen können sie sich zum Schlaf nicht niederlegen. Werden sie umgeworfen, können sie nicht wieder aufstehen. Kennen Jäger die Bäume, an die sie sich lehnen, um zu schlafen, sägen sie diese an oder untergraben die Wurzeln. Lehnt sich der Elch an den Baum, reißt er ihn wegen seiner Schwere um und stürzt mit ihm zu Boden.
- Drittes leben dort die Auerochsen, etwas kleiner als Elefanten, die aber in Gestalt den Ochsen gleichen. Sie sind sehr stark und töten jeden Mensch und jedes Tier, die sie sehen. Man fängt sie in Fanggruben. Die Jagd härtet die jungen Leute ab, die Hörner des Auerochsen werden als Trophäen vorgezeigt. Jung eingegangen, lässt sich der Auerochse allerdings zähmen. Größe und Aussehen der Hörner unterscheidet sich von dem der italienischen Rinder. Sie werden bei Gelagen als Trinkbecher benutzt.
Der Hercynische Wald
Wo lebten diese seltsamen Tiere? Der Begriff des Hercynischen Waldes ist, wie alle geographischen Namen der Antike für barbarische Lande, relativ vage umrissen und flüchtig gewesen. Das Antikenlexikon Der Kleine Pauly (Band 2, Sp. 1057) erklärt, Hercynia silva zur Gesamtbezeichnung für die nördlich der Donau gelegenen Mittelgebirge vom Rhein bis zum Gebiet der Daker und Sarmaten – also alles vom heutigen Schwarzwald, Odenwald, Taunus, Westerwald, Harz, aber auch noch alles östlich davon bis zu den Karpaten. Caesar liefert in Buch 6, Abschnitt 25 eine Beschreibung des Waldes, die damit übereinstimmt.
In der Kryptozoologie wirft ja häufig jede Frage zwei weitere auf. So ist es auch hier – stammt zum Beispiel der Abschnitt, der das Einhorn und seine kuriose Mitwaldbewohner erwähnt, überhaupt von Caesar oder handelt es sich um einen späteren Einschub von fremder Hand?
Ist der Text „echt“?
Anders als andere antike Autoren hat Caesar kein Auge für kuriose Details und zeigt auch keinerlei Interesse an ihnen. „De bello gallico“ ist der nüchterne Bericht eines selbstherrlichen Kriegsberichterstatters – und deshalb fiel diese Passage schon immer auf. Es ist ein Einschub, der nicht in den Textlauf passt und auch nicht zu dem Autor des Buchs – rundum ein Fremdkörper, die den Fortgang der Geschichte unterbricht. Es ist festzustellen, dass es sich wohl um einen späteren Einschub in den Text handelt – wann er erfolgte und von wem er stammt, ist ungewiss. Er kann sogar erst im Mittelalter eingefügt worden sei. Man nennt deshalb den Autor dieser Passage den Pseudo-Caesar. (vgl. Henke)
Caesars Einhorn
Nun zu den Tieren. Die Stelle über das Einhorn mit den ausgebreiteten Händen an der Spitze, das so anders klingt als das uns gewohnte Horn des Einhorns, hat erstaunlich wenig Wiederhall in der Literatur über Fabelwesen gefunden. Die Abschnitte über Einhörner bei Peter Costello (The Magic Zoo), Richard Carrington (Mermaids and Mastodons), Rudolf Schenda (Das ABC der Tiere), selbst die Monografie „Das Einhorn:“ von John Wilhelm von Müller (1853) erwähnen die Stelle nicht.
Odell Shepard geht in „Lore of the Unicorn“ (S. 40, 44) kurz auf Caesar ein, zitiert ihn aber nicht, sondern meint bloß, der Abschnitt zeige, dass selbst größte Geister der Geschichte an das Einhorn glaubten, und Aleke Thuja (S. 41) spricht fälschlicherweise von dem Bericht eines „Augenzeugen“, obwohl der Text nur gehörte Erzählungen referiert.
Georg Dorminger (S. 131) hält das Einhorn – wohl vor allem wegen der Beschreibung seines Horns – für das Rentier: Es ist wahrscheinlich das Rentier gemeint, das erst später nach Norden zog. Das sagenhafte Einhorn, ein orientalisch-antikes Fabeltier, kann es nicht sein.“
So verfallen die Philologen in denselben Fehler, den auch Kryptozoologen gern machen – sie suchen auf Teufel komm raus eine reale Entsprechung für etwas, von dem niemand etwas Genaues weiß und über das nur gemunkelt wird. Falls Teile dieser Caesar-Passagen auf religiöse Fabeln zurückgehen, wie noch sichtbar wird, sind solche geistigen Klimmzüge nicht nötig. Dann leben im Hercynischen Waldgebirge eben Tiere, die zum Teil auf realen Vorbildern beruhen und anderseits so imaginär sind wie der Pegasus, ein Pferd mit Schwingen.
Elch und Auerochse
Die Sätze über den Auerochsen sind zwar ebenfalls fehlerhaft, aber generell nicht unrichtig. Der Abschnitt über den Elch allerdings ist wieder reinstes Jägerlatein.
Auch hier will Dorminger vermittelnd eingreifen: „Die Größenangabe ist falsch. Er ist ein gewaltiges Tier. Im sumpfig-moorigen Boden ist er schwerfällig. Daher wohl der Irrtum über die knöchellosen Beine.“
Das ist erneut naiv gedacht, denn die Geschichte vom knöchellosen Elch ist das Ergebnis eines Lese- oder Verständnisfehlers des unbekannten Autors, der Caesar seine Tierkunde unterschob. Das Tier, das man nur fangen kann, wenn man den Baum umsägt, an den es sich schlafen legt, ist ein uraltes Legendenmotiv.
Es bezieht sich allerdings auf den Elefanten, nicht auf den Hirsch (die Verwechslung kam sehr wahrscheinlich daher, dass im griechischen elephos Hirsch heißt und elephas Elefant). Dass der Elefant keine Kniegelenke habe, steht bereits bei Ktesias (5. Jahrh. v. Chr.) in dessen Persergeschichte. Aristoteles (4. Jahrh. v. Chr.) greift die „Tatsache“ in seiner Historia Animalum auf (2,1), nur um sie abzustreiten: „Der Elefant schläft nicht aufrecht stehend, wie manche behaupten, sondern er knickt die Knie ein und legt sich zu Boden, nur kann er wegen seines Gewichts seine Knie nicht gleichzeitig auf beiden Seiten knicken, so dass er entweder auf die eine oder die andere Seite fällt und dann in dieser Lage schläft. Er knickt die Hinterbeine in der Weise ein, wie ein Mensch das tut.“
Dass man Bäume ansäge, um Elefanten zu fangen, kann man in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. auch noch bei Diodor (3,27) lesen.
Der Physiologus, der Urvater aller Bestiarien, zwischen 150 und 170 in Griechisch geschrieben, listet viele der Antike bekannte Tiere auf und deutet sie – wie in einer Fabel – auf ihren Sinngehalt in der Perspektive der christlichen Moral. Über den Elefanten heißt es dort (43), er sei so beschaffen, dass er nicht mehr aufstehen könne, wenn er umfalle, weil es ihm an Kniegelenken ermangele. Da die Jäger das wissen, sägen sie den Baum an, an den sich der Elefant anlehnt. Kommt dann der Elefant, um zu schlafen, stürzt er mit dem Baum um und beginnt zu trompeten. Dann komme ein weiterer Elefant, um ihn aufzurichten, was aber nie gelinge. Erst wenn zwölf Elefanten eingetroffen seien, die das nicht vermögen, kommt zum Schluss ein kleiner Elefant, schiebt den Rüssel unter das gestürzte Tier und richtet es mit Leichtigkeit wieder auf.
Das Buch deutet das eben Gesagte dann – der kleine Elefant, das sei Jesus, der uns alle von den Sünden befreit und damit aufgerichtet habe. Dieser Text ist zwar jünger als Caesar, steht aber in der längeren Tradition der griechischen Zoologie. Man beachte aber, dass das älteste Manuskript des Textes aus dem 9. Jahrhundert stammt. Zwischen der Zeit Caesars und der Zeit Karls des Großes also kann der Einschub im Text platziert worden sein – und damit noch viel jünger sein als der „Physiologus“.
Text und Realität – immer ein Spannungsverhältnis
Es wäre ja immer wieder schön, wenn man aus Texten und Erzählungen Rückschlüsse ziehen könnte auf die reale Welt. Doch Texte sind die Wirklichkeit, in extremem Maße gefiltert. Erstens ist Caesars Bericht über seine Kriegstaten per se geschönt und dient seiner Selbstverherrlichung. Die Tiere des Waldgebirges beschreibt er – oder jemand ganz anderes – nach Gemunkel und Geraune.
Selbst wenn man den Auerochsen und den Elch mit zoologisch fassbaren Tieren identifizieren will, stößt man auf große Probleme. Beim Einhorn steigen diese ins Unermessliche. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass die Tiere einer theologisch- moralischen Abhandlung entnommen sind, was ihnen dann endgültig den Boden unter den Hufen entzieht.
Wir wollten auf ein Einhorn stoßen und fanden – ganz wie der Elch aus Dormingers Interpretation – nur schlammigen Boden.
Literatur:
Aristoteles: Historia Animalum. https://en.wikisource.org/wiki/History_of_Animals_(Thompson)/Book_II
Caesar: De bello Gallico. Übers. Georg Dorminger. München: Goldmann o.J.
Der Kleine Pauly. München: Alfred Druckenmüller 1975
Henke, Rainer: Jägerlatein in Caesars Bellum Gallicum (6,25-28). Original oder Fälschung? Gymnasium, 105,2 (1998), S. 117–142.
Physiologos. Griechisch / Deutsch. Übers. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 2001, dort S. 83, 126
Shepard, Odell: Lore of the Unicorn. London: George Allen & Unwin 1930
Thuja, Aleke: Dem Einhorn auf der Spur. München: Knaur 1988