Wir schreiben das Jahr 50 vor Christus. Julius Caesar schlägt sich im heutigen Frankreich mit den letzten widerspenstigen Galliern herum, während große Teile Germaniens noch von den Römern verschont bleiben. Häufig stellt man sich Germanien als geschlossenes Hochwaldgebiet mit vorherrschenden Rotbuchen und Eichen vor. Doch war das wirklich so?
Die Mega-Herbivoren-Theorie und das Vegetationsmosaik
Mittlerweile gehen Paläo-Ökologen nicht mehr von einer geschlossenen Waldfläche zwischen dem Limes und dem Polarkreis aus. Nach der derzeit vorherrschenden Meinung war am Ende der Eiszeit, also vor grob 12.000 Jahren, zunächst eine Offenlandschaft entstanden, die hauptsächlich von Sträuchern und Gräsern bewachsen war. Mit steigenden Temperaturen breiteten sich auch die Bäume wieder aus. Da aber bereits weitende Großtiere wie Wisente, Wildpferde, Auerochsen, Rothirsche und Elche vorhanden waren, konnten die Bäume keine großen, geschlossenen Wälder bilden: Beweidung und Verbiss sorgten immer wieder für offene Bereiche in der Landschaft: Ein Mosaik aus alten Hochwäldern, offenen Landstrichen und heranwachsenden Wäldern entstand.
Mitteleuropa im Mittelalter
Von Deutschland ist noch nicht die Rede, man kennt das „Heilige römische Reich deutscher Nation“, das große Teile Mitteleuropas einnimmt. Um 1400 blieb das Reich beinahe 200 Jahre in seinen Ausdehnungen stabil und schloss ganz Deutschland, die Schweiz und Österreich, große Teile Norditaliens, Tschechien, Schlesien und Pommern, die Niederlande, Teile Belgiens, das Elsass und Lothringen mit ein. Von einem geschlossenen Staatsgebilde kann man jedoch nicht sprechen. Obwohl ein Kaiser im Reich herrschte, hatten die regionalen Fürsten vor Ort das Sagen. Einige von ihnen wählten den Kaiser, so dass ein komplexes System von Abhängigkeiten die Macht weit verteilte. De facto führte das zu einem Reich, in dem einige Fürsten und Kurfürsten ständig miteinander rangen.
Der Großteil der Bevölkerung war direkt oder indirekt mit der Nahrungsmittelproduktion beschäftigt. Auch wenn wir es heute anders sehen, war das Mittelalter eine Zeit der Innovationen. Die traditionelle Landwirtschaft mit Grabstock, hölzernem Pflug und unsteter Fruchtfolge wurde ständig verbessert. Auf den Getreidefeldern führte zunächst die Kirche die Dreifelderwirtschaft ein: Sommergetreide, Wintergetreide und Brache wechselten einander ab. Durch den Eisenpflug, der zunächst von Ochsen, dann später auch von Pferden gezogen wurde, konnte der Ertrag stark gesteigert werden. Obwohl Getreide das Hauptnahrungsmittel für die Bevölkerung blieb, verbesserten Obst und Gemüse sowie Milchprodukte wie Käse und Dickmilch die Ernährungslage deutlich.
Die Landwirtschaft im Hoch- und Spätmittelalter
Die Weidewirtschaft fand auf den Brachflächen und zu großen Teilen im Wald statt. Hirten führten die Herden in den Wald, hielten sie dort halbwegs zusammen und ließen sie dort fressen. Abends wurden die Tiere wieder ins Dorf geführt, der Dung auf die Felder ausgebracht.
Dies führte zu einer charakteristischen Hutewald-Struktur in der Nähe der Dörfer und Kloster: die Wälder wurden lichter, weil Jungbäume verbissen wurden und sich der Wald nicht erneuern konnte. Diese Wälder unterschied man von den dichteren und bedrohlicheren „dunklen Wäldern“. Gleichzeitig wurden die großen, beinahe freistehenden, alten Bäume zum Sinnbild für Stärke, Kraft, Freiheit, zum Mythos der „deutschen Eiche“.
Eine weitere Waldnutzung, die Jagd, war dem gemeinen Volk nur sehr eingeschränkt erlaubt. „Hochwild“ gehörte dem adeligen Landherren, wer sich daran vergriff, wurde hart bestraft. Für alle anderen blieb nur die Jagd auf Niederwild: Rehe, Hasen, Kaninchen, Fuchs, Dachs und Marder und bestimmte Vogelarten.
Die edelsten aller Tiere, Wisent und Auerochse, waren schon bald dem hohen Adel vorbehalten, denn sie wurden bereits im Hochmittelalter sehr selten.
Der Auerochse – und sein Aussterben
Auerochsen waren die typischen Vertreter des Megaherbivoren-Mosaiks. Sie grasten im Sommer, wie heutige Zuchtrinder. Im Winter fraßen sie vor allem Brombeersträucher, freigescharrte Kräuter, Baumringe, Eicheln und Bucheckern. Auch wenn die Winter im Mittelalter weniger hart waren, als heute, werden die Tiere deutlich an Gewicht verloren haben. Auerochsen waren über ganz Süd- und Mitteleuropa verbreitet, von Südschweden über Großbritannien und das Festland. Sie fehlten in Norwegen, Finnland und Irland.
Das mittelalterliche Klimaoptimum und die ständig verbesserte Landwirtschaft sorgte für einen Bevölkerungszuwachs der Menschen, wie ihn Mitteleuropa noch nicht gesehen hatte. Die folgende Abkühlung forderte weitere Agrarflächen, denn die Flächenleistung und auch die Qualität der landwirtschaftlichen Produkte sank zwangsläufig: Die Menschen fraßen sich weiter in die Wälder hinein, die Lebensräume der Auerochsen verkleinerten sich im gleichen Maße.
Das übliche Bild: Lebensraumverlust und Jagd
Hinzu kam die Jagd: Auch wenn der Auerochse als „das edelste unter den Wildtieren“ nur hohen und höchsten Herrschaften vorbehalten war, wurde er schnell seltener. Bald fand man sie nur noch in schlecht zugänglichen und kaum nutzbaren Wäldern, meist dauerhaft sumpfige Bruchwälder, in denen sich Menschen nur schwer fortbewegen können.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden die letzten Exemplare im Wald von Jaktorów, 55 Kilometer südwestlich von Warschau, unter den Schutz des Landesherrn gestellt und gehegt. Otto Antonius wertete die vorhandenen Protokolle aus. Demnach zählte man 1564 acht alte und drei junge Stiere sowie 22 Kühe und fünf Kälber. 1599 waren noch 24 Exemplare vorhanden, 1602 aber nur noch vier. 1620 war noch eine einzige Kuh übrig, die 1627 starb. Diese letzte Auerochsen-Kuh wurde nicht gewildert, wie oft behauptet, sondern starb wahrscheinlich eines natürlichen Todes.
(Wikipedia)
Die Wikipedia gibt zusätzlich an, dass „nach 1600 Ure im Tierpark Zamoyski gehalten wurden“. Einen Ort namens Zamoyski gibt es jedoch nicht. Zamoyski ist der Name einer reichen Familie des polnischen Kleinadels. Sie kam kurz vor 1600 zu Bedeutung, die bis heute anhältt. Ab 1578 ließ Jan Zamoyski die Planstadt Zamosc im Südosten Polens erbauen. Ein Tierpark erscheint in so einer Stadt nicht unwahrscheinlich. Möglicherweise gab es also nach 1600 eine zweite, kleine Population der Auerochsen.
Nach seinem Aussterben 1627 verschwand der Auerochse etwa 250 Jahre aus dem Gedächtnis der Bevölkerung.
Anmerkung: 2022 veröffentlichte Zlatozar Boev einen Bericht einer Ausgrabung in einer Baustelle in Sofia. Hier wurde eine Schicht Müll entdeckt, die zunächst auf einen Zeitraum in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts und der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts (also ca. 1650 bis 1750) datiert wurde. Sie enthält einen massiven, bovinen Hornzapfen, den Boev als Überrest eines Auerochsen interpretiert. Hat er Recht, verschiebt sich das Aussterben nach hinten. Quelle
Der „Deutsche Wald“
Doch zu Anfang des 20. Jahrhunderts sah man die Sache noch anders. Wisent, Auerochse, Elch, Bär, Wolf, Luchs, Adler und Rothirsch, alles „Tiere des deutschen Waldes“. Mit dem beginnenden Nationalismus in Deutschland im Rahmen der Reichseinigung 1871 begann der „Deutsche Wald“ als Symbol an Bedeutung zu gewinnen. Romantisierend gesehen bildete er ein Gegenstück zur aufkommenden Industrialisierung und den elenden Mietskasernenvierteln in vielen Städten.
Nach dem verlorenen ersten Weltkrieg radikalisierte sich diese Sicht. Einige, vor allem national gesinnte Denker sahen im Wald den „Urgrund“ der Deutschen und den „Kraftquell“ der Nation.
Vor diesem Hintergrund begannen die in vielen Städten aus dem Boden sprießenden Zoologischen Gärten auch Tiere „des deutschen Waldes“ zu zeigen. Diese hatten gegenüber den prestigeträchtigeren Exoten wie Zebras, Nashörnern, Elefanten und Flusspferden einen entscheidenden Vorteil: sie waren wetterfest und brauchten keine geheizten Häuser. Dazu kam, dass sich viele der Tiere an Zoo- oder Wildparkbedingungen schnell anpassen konnten und sich bald gut vermehrten.
Hirsche, Rehe, später auch Mufflons, Steinböcke, Wölfe und Luchse wurden Standard in vielen Ausstellungen. Bemerkenswert war auch das Wildschwein, das um 1900 in weiten Teilen Deutschlands ausgerottet war, sich aber in den Zoos großer Beliebtheit erfreute. Nur die beiden größten Tiere wurden zum Problem. Das Wisent wurde erst in den 1920er Jahren für den Zoo „entdeckt“, gerade noch rechtzeitig, um ein vollständiges Aussterben zu verhindern. Doch der Auerochse fehlte…
Die Heck-Brüder
Diese Lücke fiel auch den Brüdern Heinz und Lutz Heck auf. Als Söhne des bekannten Berliner Zoodirektors Ludwig Heck schafften sie es, zwei der wichtigsten Zoodirektoren-Posten in Deutschland zu übernehmen. Heinz wurde 1927 Zoodirektor in München, Lutz wurde 1927 zunächst stellvertretender Direktor in Berlin, bis er 1932 seinen Vater im Amt des Zoodirektors beerbte.
Beide stellten das Fehlen des Auerochsen fest und auch das didaktische Problem, dass der Auerochse immer mehr mit dem (bekannten) Wisent gleichgesetzt wurde. Um das zu „beheben“ musste also ein Ersatz für den Auerochsen her.
Da es eine ganze Reihe „primitiver“ Zweinutzungs-Rinderrassen gab, erschien es logisch, sie mit einander zu kreuzen, um das gewünschte „ursprüngliche Erbe“ hervorzubringen. Dabei war das Wissen über die Auerochsen eher begrenzt. Man kannte die Fellfarben und die Hornform, nicht jedoch Körperbau und -größe der Auerochsen. Daher konzentrierten sich die Heck-Brüder auf die bekannten Eigenschaften.
Da sie verschiedene Ausgangsrassen verwendeten, aber auch wegen der räumlichen Distanz zwischen München und Berlin entstanden zwei unterschiedliche Linien mit unterschiedlichem Aussehen. Bereits 1932 wurde in München ein Stier namens „Glachl“ geboren, der zu 75% Korsisches Rind und zu 25 % eine Kreuzung von Niederungsbulle, Anglerrind, Steppenrind und Hochlandrind war. Dieselben Eltern brachten später noch ein Kuh-Kalb. Sie gelten als die ersten „Heck-Rinder“. Heinz Heck kreuzte weitere Rassen ein, um schwerere Tiere zu erreichen.
Die Hecks und die Nazis, allen voran der Reichsjägermeister
Heinz Heck (München) war mindestens unpolitisch, einen in der Zeit des Nationalsozialismus angebotenen Professorentitel hat er abgelehnt, er war vermutlich nie NSDAP-Mitglied. Sein Vater Ludwig war jedoch mit der Entwicklung der zoologischen Rassenkunde, der Rassenlehre und des Sozialdarwinismus beteiligt. Er beteiligte sich am nationalsozialistisch initiierten Forschungsprojekt „Wald und Baum in der arisch-germanischen Kulturgeschichte“. Dieses Projekt wollte die ‚Fusion von Wald, Germanen- und Ariertum‘ „wissenschaftlich“ nachweisen. Sein Sohn Lutz folgte ihm idiologisch und pflegte freundschaftlichen Kontakt zu Herman Göring, unter anderem Reichsjägermeister.
Während der Besetzung Osteuropas sorgte er für die systematische Verschleppung exotischer Tiere „ins Reich“. 1939/40 veranstaltete er mit Göring und anderen SS-Mitgliedern eine „Großwildjagd“ im Zoo von Warschau, bei der ein Großteil des verbliebenen Tierbestandes erschossen wurden. Unter ihm setzte der Berliner Zoo Zwangsarbeiter ein.
Herman Göring förderte die Zucht der Heck-Rinder aus politischen wie persönlichen Gründen. Er wollte die Auerochsen wieder auferstehen lassen und auswildern, um sie zu bejagen. 1938 wurden die ersten Tiere in Görings Jagdrevier, der Schorfheide bei Berlin ausgesetzt, 1941 folgten weitere Tiere in Bialowieza. Ganz „nebenbei“ wurden hierzu 900 Polen ermordet und mehr als 20.000 Menschen vertrieben. Göring plante, ganz Nordost-Polen in einen „germanischen Urwald mit urdeutschen Jagdtieren“ umzuwandeln. Zum Glück verhinderte der weitere Kriegsverlauf diesen Irrsinn.
Göring zog sich im Verlauf des 2. Weltkrieges, spätestens nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad immer mehr ins Privatleben zurück. Es gibt unbestätigte Berichte, nach denen er und andere hohe SS- und Nazi-Kader nur in Felle gehüllt mit Speeren und Spießen Großtiere jagten, die man ihnen in einer Drückjagd zutrieb. Ziel war es, „das Urgermanische in sich zu spüren“. Ob hierbei auch Heckrinder beteiligt waren, ist unklar.
Die Nazi-Kühe sind ausgestorben, aber nicht bewältigt.
Ironischerweise macht der Krieg ausgerechnet der „politischen“ Berliner Linie den Garaus. Die letzten Heckrinder des Zoos wurden vermutlich während der Belagerung oder kurz nach der Befreiung 1945 von Zoomitarbeitern oder Zwangsarbeitern geschlachtet und gegessen. Streng genommen sind die „Nazi-Rinder“ also wieder ausgestorben.
Auch die Münchener Linie von Heinz Heck hat im und nach dem Krieg einige Verluste hinnehmen müssen. 39 Tiere überlebten.
Lutz Heck wurde wegen seiner Straftaten im besetzten Polen von den sowjetischen Behörden gesucht und entzog sich durch Flucht in den Westen. Er konnte bis 1980 noch Bücher publizieren, eine Aufarbeitung seiner Rolle in den Zoos Deutschlands erfolgte schleppend und ist bis heute nicht abgeschlossen.
Heinz Heck blieb bis zu seiner Pensionierung 1969 hoch geachteter Direktor im Tierpark Hellabrunn, München.
Was ist das Heckrind nun?
Bereits früh wurden die Heckrinder in der wissenschaftlichen Literatur als unzureichend bezeichnet. Sie entsprechen in ihrem Erscheinungsbild kaum den Auerochsen, denen sie ähneln sollen. Heckrinder stellen aufgrund fehlender Selektion und lange fehlenden Zuchtzielen keine einheitliche Population dar. Immer wieder treten Exemplare mit unerwünschten Eigenschaften auf, bis hin zu schwarzbunten Flecken.
Die Rückenlinie der meisten Heckrinder ist gerade, der Rumpf hat die für Hausrinder typische Tonnenform. Auerochsen hatten eine deutlich geschwungene Rückenlinie durch eine starke Schulter- und Nackenmuskulatur. Lange Beine ließen den Widerrist bei Bullen auf 160 bis 180 cm aufragen, während Heckrinder mit 140 cm kleiner sind, als die meisten modernen Einnutzungsrassen. Insgesamt wirkte der Auerochse wesentlich athletischer als das Heckrind.
Die Fellfarbe ist bei vielen Tieren dem Auerochsen ähnlich. Die dunklen Stiere tragen häufig einen hellen Aalstrich auf dem Rücken, oft auch einen heller gefärbten Farbsattel. Gelegentlich kommen helle, rötlich-beige bis graue Bullen vor. Die Kühe sind ähnlich gefärbt, von schwarz über grau bis rötlichbraun. Beide Geschlechter sollen ein weiß umrandetes Maul tragen. Die meisten Merkmale werden nicht stabil vererbt, so dass eine Selektion nach Fellfarben schwierig ist.
Ein modernes Zuchtziel sind dunkle Stiere mit Aalstrich und dem weißen Maul, mal mit hellen oder dunklen Stirnfransen. Kühe sollten rötlich-beige sein, der Kopf und die Beine dunkler als die Flanken. Auch der Körperbau ist deutlich zu verbessern. Die Heckrinder ähneln hier zu sehr den anderen Zuchtrassen.
Kein Abbild – aber nützlich
Aus diesem Grund ist das Heckrind nicht als Rückzüchtung oder Abbildzucht des Auerochsen anzusehen, sondern eher als eine eigene Landrasse, die durch Kreuzung entstanden ist. Ein „Wert“ ist den Tieren eher bei der Nutzung in der Landschaftspflege zuzusprechen. Landschaftspfleger mögen sie, weil sie ähnlich robust, wie andere Primitivrassen und gut ans mitteleuropäische Klima angepasst sind. Durch ihr andersartiges Aussehen erkennen auch unbedarfte Menschen, dass es sich nicht um „gewöhnliche Kühe“ handelt. Die Medien nehmen Meldungen über Heckrinder immer wieder gerne auf. Mittlerweile haben sogar viele Regionaljournalisten das Wissen, sie nicht als „rückgezüchtete Auerochsen“, sondern als Abbildzucht oder Urrinder zu bezeichnen.
Kann der Auerochse vom Aussterben zurückgeholt werden?
Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich überlegen, ob eine Tierart, von der auf der Welt etwa 1,5 Milliarden Individuen leben, als ausgestorben bezeichnen kann. Die ursprüngliche Form ist ausgestorben, die Domestikation über mehr als 3000 Generationen hat ihren genetischen Tribut gefordert. Einige Eigenschaften des Auerochsen sind vermutlich so erfolgreich verdrängt worden, dass sie sich durch die besten Zuchtbemühungen nicht mehr ausprägen lassen. Welche das sind, kann die moderne Paläo-Genetik halbwegs sicher sagen.
Vielleicht ist es irgendwann möglich, einzelne Rinder mit erwünschten Genen gezielt miteinander zu kreuzen, um diese Gene „anzureichern“, den Rest sollte dann eine moderne Genschere ermöglichen. Die mitochondriale DNA der Auerochsen ist bekannt, die Kern-DNA ist noch nicht vollständig sequenziert. Der Rest ist moderne Tierzucht: in-vitro Befruchtung und Embryonaltransfer, die bei Rindern routinemäßig eingesetzt wird.
Die Frage ist jedoch, was mit einem solchen Tier passiert. Ist es ein hübsches Zootier, mit dem man ein paar weitere Zoo-Rinder züchten kann? Kann man es in Gehegen auswildern, wie das derzeit mit den oben oft zitierten Wisenten gemacht wird? Ist der Auerochse möglicherweise in einiger Zukunft eine Art, die frei leben kann? Vor dem Hintergrund von Holznutzung, Landwirtschaft, Straßenverkehr und Spaziergängern im dicht besiedelten Deutschland? Eines ist sicher: Die Begegnung mit einem Aueroch-Stier mit 180 cm Widerristhöhe und einer Hornspanne von 80 cm auf dem Wanderweg gibt dem Begriff „Respekt vor der Natur“ eine neue, sehr akute Bedeutung.
Weitere Zuchtprojekte
Die Heck-Brüder waren bei den Rückzüchtungsversuchen mit ihren Rindern Vorreiter, aber nicht die einzigen.
Das Taurus-Rind ist eine Weiterzüchtung auf Basis der Heckrinder. Dieses Projekt besteht seit 1996 und hat als Zuchtziel, aus den Heckrindern durch gezielte Einkreuzungen größere, hochbeinigere Rinder zu formen, die Wildfarben zu erhalten und nach vorne geschwungene Hörner zu erzeugen. In Deutschland sind Tiere des Projektes in den Auen der Lippe in NRW zu finden.
Die Zuchtziele des Taurus-Rindes wurden weitgehend erreicht. Die schlanken, hochbeinigen Rinder erreichen immerhin eine Widerristhöhe von 160 bis 165 cm und bis zu 1400 kg (beim Stier). Die Fellfarben sind noch nicht vollständig stabilisiert. Die Hörner sind deutlich nach vorne und kräftig geschwungen, aber Form und Größe sind noch variabel.
Wesentlich jünger ist das Tauros-Projekt, das von der niederländischen „Stichting Taurus“ initiiert wurde. Es ist größer aufgezogen als das Taurus-Projekt und kann durch die Teilnahme zahlreicher Länder mehr Fläche aufweisen. Die hier eingesetzten Rassen auerochsenartigen Rassen stammen vor allem aus Italien und der iberischen Halbinsel. Das Projekt wird genetisch begleitet, Studien wurden aber noch nicht veröffentlicht. Die Fotos der Tauros-Rinder zeigen beeindruckende Tiere athletischer Statur in guter Farbe.
Das Auerrindprojekt aus dem Jahr 2015 ist ein kleines Projekt eines experimentalarchäologischen Freilichtlabors in Lorsch an der Bergstraße. Bisher sind nur F1-Kälber geboren, deswegen kann man noch kein Ergebnis bewerten.
Generell scheint es bei allen Rückzüchtungsbemühungen nicht so schwer zu sein, auerochsenähnliche Phänotypen zu erzeugen. Die Fixierung dieser Eigenschaften, die hinterher eine einheitliche Rasse ausmacht, erscheint deutlich langwieriger.
Literatur
Andreas Gautschi: Der Reichsjägermeister. Fakten und Legenden um Hermann Göring. 5. Auflage. Neumann-Neudamm, Melsungen 2010
Julia Poettinger: Vergleichende Studie zur Haltung und zum Verhalten des Wisents und des Heckrinds 2011.
Walter Frisch: Der Auerochs – Das europäische Rind. 2010
Cis van Vuure: Retracing the Aurochs – History, Morphology and Ecology of an extinct wild Ox. 2005
Der Spiegel: Die Überkuh der Nazis
Wikipedia zum Auerochs, Wisent, Heckrind, Hausrind