Wie ich den merkwürdigsten Wal der Welt rekonstruierte
Kürzliche erregten neue Forschungsergebnisse um einen Narluga, einen bizarren Hybriden aus Narwal (Monodon monoceros) und Beluga (Delphinapterus leucas) weltweite Aufmerksamkeit (Wir berichteten bereits kurz). Er wurde nach Angaben eines grönländischen Inuit namens Jens Larsen 1986 oder 1987 in der Disko-Bucht im Westen Grönlands geschossen. Das Tier wies unter anderem einige äußerst ungewöhnliche Besonderheiten der Zähne auf. Der Wal soll grau gefärbt gewesen sein, und seine Brustflossen denen eines Belugas, die Schwanzflosse dagegen eher der eines Narwals geähnelt haben.
Larsen beschloss aufgrund des ungewöhnlichen Aussehens des Wals dessen Schädel aufzuheben. Etwa zur gleichen Zeit sollen in der Gegend noch zwei ähnliche Exemplare geschossen worden sein, von denen jedoch eines versank und nicht geborgen werden konnte. Der Kopf des dritten Exemplars wurde zum Skelettieren an der Küste ausgelegt, allerdings niemals wiedergefunden, so dass als einziges physisches Relikt der von Larsen aufbewahrte Schädel verblieb.
Ein ungewöhnlicher Schädel
Als 1990 der dänische Zoologe und Walexperte Mads Peter Heide-Jørgensen den Schädel auf dem Dach eines Werkzeugschuppens im grönländischen Kitsissuarsuit entdeckte, erkannte er direkt, dass es sich dabei um etwas wirklich Außergewöhnliches handelte. Larsen stiftete den Schädel für weitere Untersuchungen, woraufhin dieser nach Kopenhagen gebracht wurde. Seine Anatomie zeigte Ähnlichkeiten zu jener von Narwalen und Belugas, wies aber auch eine Reihe von Merkmalen auf, die völlig einzigartig waren, und sich von allen anderen bekannten Walen unterschieden.
Anhand der teilweise verwachsenen Suturen (Knochennähte) von Oberkiefer und Zwischenkiefer ließ sich erkennen, dass es sich um ein erwachsenes und bereits älteres Tier gehandelt hatte. Beim Vergleich mit den Schädeln von Belugas und Narwalen lagen die Proportion dieses Schädels etwa zwischen beiden Arten, in seinen Größendimensionen allerdings etwas über deren durchschnittlicher Größen. Bereits vor einigen Jahren wurde für den Hybriden der Begriff „Narluga“ geprägt, den ich hier auch verwenden möchte.
Besonders ungewöhnlich waren allerdings die Zähne, welche sich sowohl in Anzahl, Form als auch Größe von jenen von Belugas und Narwalen unterschieden. Belugas besitzen im Ober- und Unterkiefer je 8-11 Zähne auf jeder Seite.
Die Zähne von Belugas sind zapfenförmig, und nutzen sich vor allem im Oberkiefer oft auf typische Weise löffelförmig ab.
Narwal-Schädel sind etwas Besonderes
Beim Narwal dagegen besitzen üblicherweise nur die Männchen einen einzigen funktionellen Zahn, bei welchem es sich um einen massiv modifizierten linken oberen Eckzahn handelt. Er entstammt dem Oberkiefer und nicht dem Zwischenkieferknochen, ist also kein Schneidezahn. Der Zahn wächst außerhalb des Mauls durch die Haut der Oberlippe. Normalerweise ist er nur auf einer Seite ausgeprägt. Der deutlich kleinere und auch nicht gedrehte rechte Eckzahn verbleibt üblicherweise im Kieferknochen. Bei weiblichen Narwalen finden sich derartige im Kiefer verbleibenden Eckzähne sowohl rechts als auch links.
Eine derartig extrem ausgeprägte dentale Asymmetrie wie bei Narwalen ist einzigartig unter den lebenden Säugetieren. Gelegentlich finden sich allerdings auch Exemplare mit einem auch rechts teilweise oder sogar voll ausgebildeten Stoßzahn. Selten kommen auch Weibchen mit einem oder sogar zwei Stoßzähnen vor. Das eigentliche Maulinnere ist dagegen völlig zahnlos. Gelegentlich finden sich auch kleine verkümmerte Zähne an der Basis des Stoßzahns im Knochen des Oberkiefers, welche allerdings nicht durchbrechen.
Sehr merkwürdige Zähne
Der Schädel des Wals aus der Diskobucht hatte dagegen ursprünglich im Oberkiefer auf jeder Seite je 5 und im Unterkiefer je 4 Zähne, von denen allerdings ein oberer und ein unterer postmortal verloren gingen. Aufgrund von Abrasionen und ihrer Position im Knochen kann man davon ausgehen, dass sechs oder sieben der zehn Oberkieferzähne zu Lebzeiten in die Mundhöhle ragten.
Die drei oder vier vordersten Zähne lagen horizontal im Knochen und sind nie in die Mundhöhle durchgebrochen. Ihre sehr langgestreckte gerade Form erinnert etwas an die nicht durchbrechenden Stoßzähne von Narwalen. Die für diese typische Verdickung an der Wurzelspitze fehlt allerdings. Die vorderen Zähne ließen sich nicht ohne Beschädigung des umliegenden Knochens entfernen. Anhand von Röntgenaufnahmen ließ sich ihre Form und Länge aber ermitteln. Dies ergab eine stattliche Länge von 25,6 cm für den linken ersten Oberkieferzahn und 24,8 cm für den rechten ersten Oberkieferzahn.
Die zweiten hatten immerhin noch eine Länge von 19,6 cm und 21,5 cm. Die weiter hinten liegenden nahmen immer weiter an Länge ab. Dafür wiesen sie aber auch eine mehr oder weniger starke Krümmung auf. Nach Angaben von Jens Larsen hatte der Narluga, der im Wasser verloren gegangen war, auch sichtbare vordere Zähne im Oberkiefer.
Auch im Unterkiefer
Die Zähne im Unterkiefer zeigten ebenfalls eine Reihe von Besonderheiten. Zunächst waren sie ausgesprochen groß und massiv gebaut, deutlich größer als die Zähne von Belugas. Auch der gesamte vordere Bereich des Unterkiefers war äußerst breit und massiv. Aufgrund ihrer Form und Größe müssen die unteren Zähne sogar noch bei geschlossenem Maul teilweise sichtbar gewesen sein. Einige waren merkwürdig verdreht und zeigten vage Andeutungen von Längsrillen, vergleichbar den Stoßzähnen von Narwalen. Die ungleichmäßigen Abrasionsmuster ließen ebenfalls erkennen, dass sie sich während des Wachstums leicht um die eigene Achse gedreht haben müssen.
Die vier rechten und ersten drei linken Unterkieferzähne standen alle recht dicht beieinander. Sie waren von ähnlicher Größe und deutlich noch vorne geneigt. Der leider nicht mehr vorhandene vierte linke Zahn saß dabei aber deutlich weiter hinten im Kiefer als sein Pendant auf der rechten Seite. Zudem konnte man anhand des leeren Zahnfachs erkennen, dass er nicht nur deutlich kleiner gewesen sein muss, sondern auch sichtlich nach hinten geneigt war.
Mein erster Kontakt mit dem Schädel
Als der Schädel erstmals untersucht wurde, war seine genaue Identität noch nicht abschließend geklärt. Ursprünglich hielt man auch einen Narwal mit starken dentalen Anomalien für möglich, zog die Möglichkeit eines Hybriden allerdings auch schon in Betracht. Kürzlich vorgenommene Untersuchungen seines Erbgutes durch eine Forschergruppe um Eline Lorenzen vom Zoologischen Museum Kopenhagen konnten nun tatsächlich die Vermutung um seine hybride Herkunft bestätigten. Zudem konnte ermittelt werden, dass es sich bei diesem wirklich ungewöhnlichen Exemplar um eine Kreuzung aus einem weiblichen Narwal und einem männlichen Beluga handelte.
Die Beschreibung der beiden anderen mutmaßlichen Hybriden durch Jens Larsen ist auch insofern bemerkenswert, weil sich hierbei die Frage stellt, ob diese alle unabhängig voneinander gezeugt wurden, oder ob sie möglicherweise alle die selbe Mutter oder den selben Vater hatten. Ohne verbliebene körperliche Relikte dieser beiden Exemplare wird sich diese Frage allerdings nie beantworten lassen.
In der Diskobucht kommen sowohl Narwale als auch Belugas vor. Sie ist auch eine der wenigen Gegenden in welcher beide Arten auch zu ihrer jeweils unterschiedlichen Paarungszeit anzutreffen sind. Gelegentlich schließen sich einzelne Belugas auch Gruppen von Narwalen an, aber auch einzelne Narwale in Belugaschulen kommen gelegentlich vor. So hat sich ein junges und möglicherweise verirrtes Narwalmännchen sich im kanadischen Sankt-Lorenz-Strom den dort lebenden Belugas angeschlossen.
Zwischen verschiedenen Walspezies gibt eine ganze Reihe von dokumentierten Hybriden. Sie treten sowohl unter Zahnwalen wie Delfinen oder Schweinswalen, als auch bei Bartenwalen auf.
Ungewöhnliche Auswirkung der Genkombination
Die Interaktion der unterschiedlichen Erbanlagen ist wirklich erstaunlich. Besonders dahingehend, dass jene Gene welche beim Narwal das Größenwachstum und die Torsion des Stoßzahns steuern, sich im stärkeren Maße auf die Zähne des Unterkiefers ausgewirkt haben, als auf jene im Oberkiefer. Es wäre sehr interessant zu wissen ob sich bei der umgekehrten Kreuzung zwischen einem Narwalmännchen und einem Belugaweibchen die Genkombinationen anders ausgewirkt hätten.
Eine weitere erstaunliche Erkenntnis ergab die Untersuchung der Kohlenstoff- und Stickstoffisotpe im Kollagen des Knochens. Demnach ernährte sich der Narluga nicht von den gleichen Beutetieren wie Belugas oder Narwale. Er erbeutete vor allem Fische in tieferen Wasserschichten. Möglicherweise bevorzugte er aufgrund seiner ungewöhnlichen Bezahnung bestimmte Beute, die er nur in tieferen Wasserschichten finden konnte.
Der 2. Teil des Artikels wird in einer Woche, am 7. Juli 2019 hier erscheinen
Dieser Beitrag ist zunächst in Markus Bühler’s Blog „Bestiarium“ erschienen und unterliegt dem Urheberrecht des oben genannten Autors. Vielen Dank für die Erlaubnis, ihn hier verwenden zu dürfen.