Legenden über „Wildmenschen“, also etwa menschengroßen bis größeren Hominiden, die mit Fell bedeckt sind und in der Wildnis leben, gibt es auf nahezu jedem Kontinent. Die berühmtesten unter ihnen sind sicher der Bigfoot aus den USA und der Yeti aus Tibet. Sie sind ein wesentlicher Teil der Makro-Kryptozoologie und auch die Massenmedien berichten gelegentlich über sie.
Im Kaukasus, dem Altai und in Tianshan gilt der Alma / Almas / Almasti als ein solcher Wildmensch, der einen festen Teil in der lokalen Folklore hat. Diese Wesen werden als recht groß beschrieben, sie sollen etwas größer als Menschen sein. Ihr Körper ist mit Fell bedeckt, sie haben lange Arme und laufen gebückt auf zwei Beinen. Bemerkenswert ist der Kopf mit einer flachen Stirn und einem kegel- oder zapfenförmigen Hinterkopf.
Die Menschen in dieser Gegend beschreiben sie als sehr scheu und hauptsächlich nachtaktiv. Sie haben die Fähigkeit, schnell zu verschwinden.
Lage des Dorfes Tkhina, im heutigen Georgien
Wer ist Sana / Zana?
Die meisten Kryptozoologen, wenn sie nicht zu den überzeugten „Wildmenschen-Gläubigen“ zählen, würden die Erzählungen als typische Folklore abtun und sich höchstens für die Entstehung der entsprechenden Sage interessieren, gäbe es da nicht Sana.
Sana oder Zana?
Der sowjetische Wissenschaftler Boris Porschnew hat einige Berichte über einen angeblichen weiblichen Alma gesammelt, der im 19. Jahrhundert über viele Jahre hinweg in einem Dorf im Abchasien gelebt haben soll. Er wurde 1962 im Dorf Tkhina fündig, wo sich die älteren Bürger tatsächlich an so ein Wesen erinnern konnten.
Dieses Wesen wurde Sana bzw. Zana genannt (hier spielt die Transkription der kyrillischen Schrift eine Rolle. Bei der Übersetzung ins amerikanische Englisch wird die Form „Zana“ genutzt, für viele andere Sprachen „Sana“. Die Aussprache mit einem scharfen S am Anfang ist jedoch ähnlich.).
Sie wurde gefangen genommen, während sie frei im Wald lebte. Später versklavten sie die örtlichen Honoratioren zunächst, um sie nach einer Weile dem Gebietsfürsten von Abkhaz, Edgi Genaba zu schenken. Er brachte sie in sein Anwesen bei Tkhina, wo sie bis zu ihrem Tod, ca. 1890 lebte.
Sana wird in der Legende als groß mit auffallend hervorstehenden Wangenknochen, grauschwarzer Haut und starker Körperbehaarung beschrieben. Sie soll nie sprechen gelernt haben. Dafür soll sie über außergewöhnliche Körperkraft verfügt haben. So soll sie einen 50 kg schweren Mehlsack mit einer Hand gehoben haben, und schneller gelaufen sein, als ein Pferd.
Den Legenden zufolge soll Sana je zwei Jungen und zwei Mädchen geboren haben. Väter waren Männer aus dem Dorf oder der Umgebung. Porschnew gibt an, sogar mit zwei ihrer Enkel selbst gesprochen zu haben.
Die Autoren der Studie arbeiteten mit mehreren ihrer Nachkommen zusammen.
Physische Beweise
Die Lebensdaten ihres Sohnes Khwit sind noch besser bekannt. Er starb 1954 und wurde auf dem Familienfriedhof der Genabas beigesetzt, wo der Legende zufolge auch seine Mutter beerdigt wurde. Sein Grab konnte man 1971 identifizieren. In diesem Rahmen wurde sein Schädel exhumiert.
Die genaue Lage des Grabes von Sana war unbekannt. Der russische Hominidenforscher Igor Burtsev berichtet 1987 von einem Fund der Überreste einer anonymen Frau auf dem Familienfriedhof der Familie Genaba. Seinen Mutmaßungen zufolge handelt es sich um Sana. Die Gebeine wurden exhumiert und archiviert.
Heute ist es möglich, auch bei alten Gebeinen eine DNA-Analyse relativ schnell und billig durchzuführen, und genau das ist erfolgt. Die Forscher entnahmen Proben aus Zähne und dem Felsenbein, um hier DNA zu extrahieren. Aus diesen Proben haben sie das mitochondriale (mtDNA) und das Kern-Genom (nDNA) teilweise sequenziert (Für Experten: 3.1- und 3.3-fold coverage). Wie immer bei genetischen Untersuchungen bekamen sie einen Haufen Daten, die erst einmal interpretiert werden mussten.
Die Ergebnisse
Sanas Identität und Verwandtschaft
- Aus dem Felsenbein konnte ein wesentlich höherer, brauchbarer DNA-Anteil gewonnen werden, als aus den Zähnen. Bei Sana lag er bei 41,95%, bei Khwit bei 33,93%. Der Anteil der Zähne lag nur bei 1,16% für Zana und 12,7% für Khwit.
- Die DNA zeigte die typischen Schäden alter DNA und nur kurze, zusammenhängende Sequenzen. Dies ist erstaunlich, da beide Individuen relativ „jung“ sind (Sana starb um 1890, Khwiit 1954).
- Das Genom beider Individuen war recht „sauber“, die Kontamination lag unter 1%.
- Das chromosomale Geschlecht beider Individuen entsprach dem überlieferten und dem durch anthropologische Untersuchung festgestellten Geschlecht. Khwit war ein Mann, Sana eine Frau.
- Das mitochondriale Genom beider Individuen war identisch. Damit ist belegt, dass Khwit der Sohn der „unidentifizierten weiblichen Person“ ist.
- Da belegt ist, dass Kwit der Sohn der Sana ist, kann die „unidentifizierte weibliche Person“ sicher als Sana bestimmt werden.
- Bei beiden untersuchten Genomen handelt es sich um reine, moderne Homo sapiens-Genome. Sanas Gene clustern nicht mit archaischen Menschen oder Schimpansen.
- Eine Unsupervised Clustering Analysis (UCA) mittels des Programmes ADMIXTURE weist ebenfalls die Hypothese zurück, Sana sei nichtmenschlichen Urspungs.
Damit ist die Frage, ob Sana ein nicht-sapiens-Hominid war, vom Tisch. Somit fällt ihre Identifizierung als Alma/Almasty aus.
Sanas und Khwits Ursprung
- Khwits Y-Chromosom entspricht dem der lokalen Bevölkerung.
- Sanas maternaler Ursprung liegt in Afrika. Bei einem Vergleich mit 93 menschlichen L2-Haplogruppen-Sequenzen clustert ihr Genom mit anderen Individuen der L2b-Linie.
Alle L-Linien dominieren die Bevölkerung südlich der Sahara. L2 kommt praktisch nur bei Afrikanern südlich der Sahara vor. - Der L2b-Haplotyp ist etwa 24.000 Jahre alt. Daher kann Sanas Probe keinen alten oder archaischen Ursprung haben.
- Die Wissenschaftler haben Sanas und Khwits DNA mit den im Human Origins Panel hinterlegten Sequenzen verglichen. Dabei kam es zu einer nahen Annäherung an Mitglieder des Volkes der Dinka. Khwits Sequenzen wurden ziemlich genau auf halbem Weg zwischen den Dinka und Kaukasus-Völkern abgebildet. Dies ist nicht verwunderlich, da sein Genom ja zur Hälfte mütterlicherseits und zur Hälfte väterlicherseits ist.
- Die oben genannte UCA clustert Sanas Genom in der Nähe der Bantu aus Kenia und den Luhya. Die Dinka sind hier eine nahe gelegene, aber diskret andere Ethnie.
- In einem hypothetischen Stammbaum wird Sana auf halbem Weg zwischen den Luhya und den Dinka abgebildet.
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- Um formal auf Reste der Altai-Neandertaler zu testen, haben die Wissenschaftler auch deren Genom in die Stammbaumbildung mit eingebracht. Sie bilden die Schwestergruppe zu allen modernen Menschen, in deren Mitte Sana steht.
Schlussfolgerungen
Sana hat tatsächlich gelebt und ist keine Erfindung der lokalen Folklore gewesen. Sie war jedoch kein Wildmensch, auch wenn sie vor ihrer Gefangennahme in der Wildnis der kaukasischen Bergwälder (allein?) gelebt hat. Ihren Ursprung hat sie ziemlich sicher in der heutigen Grenzregion zwischen Kenia, Südsudan und Uganda, westlich des Turkana-Sees. Hier treffen die beiden Ethnien Luhya und Dinka aufeinander.
Turkana County, etwa hier lag die „genetische Heimat“ Sanas
Die Autoren der Studie spekulieren, dass ihre Vorfahren im Rahmen des Sklavenhandels des Osmanischen Reiches zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert in den Kaukasus gelangten. Im Osmanischen Reich wurde der Sklavenhandel erst 1890 verboten, so dass Sana durchaus selbst Opfer einer „Sammelaktion“ eines Sklavenhändlers gewesen sein kann. Mehr noch: Sie trägt genetische Anteile zweier sonst genetisch diskret getrennter, jedoch geographisch benachbarter Völker in sich. Dies lässt weitere Spekulationen zu, von der romantischen Liebe zweier Menschen, die nicht zueinander kommen durften, weil sie unterschiedlichen Völkern angehörten, bis zur Vergewaltigung auf einem Raub- oder Kriegszug. In beiden Fällen wäre Sana kein erwünschtes Kind gewesen. Falls das so war, hat man sie möglicherweise wissend an einen Sklavenhändler verkauft.
Offenbar konnte sie aber im Kaukasus zunächst ihrer Sklaverei entkommen. Sie ist in die Wälder geflüchtet und hat dort offenbar eine Zeit lang frei gelebt. Wie sie dann wieder eingefangen wurde, ist nicht überliefert. Ich kann mir vorstellen, dass hier der harte Winter im Gebirge eine Rolle gespielt hat.
War es ihr ungewöhnliches Äußeres?
Für den Kaukasus verfügte sie mit ihrer dunklen Hautfarbe, ungewöhnlichen Körpergröße, mögliche Hypertrichose über eine außergewöhnliche äußere Erscheinung. Hinzu kamen unverständliche Verhaltensweisen und das Fehlen einer vor Ort verständlichen Sprache. Gab es damals bereits Legenden über den Alma/Almasty, lag es für die lokale Bevölkerung nahe, sie mit diesem zu identifizieren.
Dies führte sie in eine Form der Sklaverei, die ihr nicht nur die grundlegenden Menschenrechte nahm, sondern sie auch zu harter Arbeit und der Duldung sexuellen Missbrauches zwang. Andererseits scheint sie eine gewisse Anerkennung genossen zu haben: Ihr Sohn Khwit lebte als freier Mann in der Dorfgemeinschaft, von Diskriminierung ist nichts bekannt – sieht man einmal davon ab, dass er (laut Paturi, 1989) regelmäßig vorführen musste, wie er mit den Zähnen einen Stuhl hochheben konnte, auf dem ein Mann saß. Dazu kommt, dass sie nicht auf dem Dorffriedhof bestattet oder irgendwo in der Natur verscharrt wurde. Sie bekam ihr Grab auf dem Familienfriedhof der lokalen Adelsfamilie, wenn auch ohne (überdauernden) Grabstein. Diese Ehre dürfte vielen der Nutznießer ihrer Versklavung verwehrt geblieben sein.
Ausblick
Die genetische Untersuchung der Gebeine von Sana und Khwit ist abgeschlossen. Die Identität von Sana ist zumindest soweit geklärt, dass ihr genetischer Ursprung bekannt und ihre Anwesenheit im Kaukasus erklärt werden kann.
Dass es sich bei Sana nicht um einen „Wildmenschen“ gehandelt hat, ist zwar schade für die Relikt-Hominiden-Freunde unter den Kryptozoologen. Ihre tatsächliche Geschichte erscheint allerdings nicht weniger spannend. Im Gegenteil: Sie zeigt – ähnlich wie der Handel mit exotischen Tieren, der zur Bestie des Gevaudan geführt haben kann – welche verschlungenen Wege in der Realität möglich sind.
Sowohl die Autoren der Studie wie auch der Autor dieser Abhandlung hoffen, dass die Gebeine von Sana und Khwit möglichst bald mit allen Ehren als freie Menschen, geachtete Mitglieder der Dorfgemeinschaft und Menschen, die der Wissenschaft einen großen Dienst erwiesen, bestattet werden können. Mögen sie endlich Frieden finden.
Weiterführende Texte:
Ulrich Magin: Der australische Affenmensch – Rassismus in der frühen Anthropologie
Tobias Möser: Wolfsangriffe 2: Die Bestien des Limosin und des Gevaudan
Tobias Möser: Haben wir den Beweis? „Was steckt hinter dem Almasty-Fingernagel?“
Literatur
Originalarbeit: Margaryan, A, Sinding, M-HS, Carøe, C, Yamshchikov, V, Burtsev, I, Gilbert, MTP. The genomic origin of Zana of Abkhazia. Advanced Genetics. 2021; 2( 2):e10051. https://doi.org/10.1002/ggn2.10051
Weitere Literatur:
Wikipedia zum Alma (Kryptozoologie)
Wikipedia zum Osmanischen Reich Abt. Tanzimat-Reformation
Wikipedia zu Haplotyp
Wikipedia zu den Dinka und Luhya
Paturi, Felix: Die grossen Rätsel unserer Welt, 1989, Dt. Bücherbund