ニホンオオカミ
Teil 2 des Beitrages erschien am 15.10.2024
Auf der zentralen Insel Japans lebte dereinst eine geheimnisvolle Kreatur, die sich ihren Platz in der lokalen Mythologie sicherte, – und wie ihre Vettern auf dem Festland auch – innerhalb der heimischen Tierwelt einen besonderen Status innehatte. Allerdings sorgte gerade die Ausrottung im frühen 20. Jahrhundert dafür, dass ihr Mythos im “postmodernen” Zeitalter fort bestand. Sie ist ein lokales kryptides Phänomen, das dem des Tasmanischen Wolfes erstaunlich ähnlich ist.
Es scheint, als könne sich auch die Wissenschaft den Mysterien um den Honshū-Wolf, Canis lupus hodophilax, nicht gänzlich entziehen. Schließlich stellt dieser „Bonsai-Wolf“ mit seinen rund 50 Zentimetern (Karl Shuker spricht gar nur von 35 cm) Schulterhöhe eine sehr kleine (wenn auch nicht die kleinste) Unterart des Wolfes dar. Er kam nur auf Honshū und den südlichen Inseln Japans vor. Und dennoch hatte er für die lokale Mythologie, ja sogar das religiöse (und nationale) Selbstverständnis der japanischen Zivilisation eine nicht geringe Bedeutung. Es scheint daher nicht weiter verwunderlich, dass einheimische Zoologen wie Yoshinori Imaizumi den Honshū-Wolf als eigene Art, Canis hodophilax, begreifen. Diese Einteilung ist jedoch umstritten (Knight, 1997: 135).
Unklarer taxonomischer Status: Wo steht der „hodophilax„?
Tatsächlich ist die Klärung dieser Frage nicht so einfach. Erschwert wird ihre Beantwortung durch die geringe Zahl der konservierten Exemplare. Die Museumsexemplare des hodophilax-Wolfs von Honshū kann man quasi an einer Hand aufzählen. Nicht einmal 10 Tiere stehen der Forschung für eine Untersuchung zur Verfügung (Matsumura/Inoshima/Ishiguro, 2014: 105) – keine gute Ausgangsposition für eine taxonomische Analyse. Dennoch war die Forschung in den letzten Jahren nicht untätig. So fand man beispielsweise heraus, dass der kleine Honshū-Wolf sich in seinen mitochondrialen Genomsequenzen ziemlich deutlich von jenen des größeren Hokkaido-Wolfs unterscheidet. Der Hokkaido-Wolf ist die andere Wolfs-Unterart, die auf Japan vorkam. Er wird auch „Ezo-Wolf“ genannt (Matsumura/Inoshima/Ishiguro, 2014: 107). Grob gesagt teilten sich der kleine Honshū-Wolf und der große Hokkaido-Wolf Japans Inseln untereinander zwischen Nord- und Süd auf. Es kam offenbar zu keinem Genfluss zwischen den beiden Unterarten.
Doch damit nicht genug. In einem phylogenetischen Vergleich mit anderen Wolfs-Unterarten wurde der Sonderstatus des kleinen Honshū-Wolfs noch einmal unterstrichen. Der „Bonsai-Wolf“ gehört einer alten Gruppe von Wölfen an (für die Fachleute: Haplotyp), die sich in ihrem genetischen Profil sehr von denen rezenter Wölfe unterscheidet. Daraus leitet sich nicht nur ab, dass die Vorfahren der kleinen hodophilax-Wölfe zuerst, vor den größeren Hokkaido-Wölfen nach Japan gelangt waren. Sie repräsentieren somit eine Wolfspopulation , die es heute so nicht mehr gibt (Matsumura/Inoshima/Ishiguro, 2014: 108 -109).
Das „Wolf-Event“ im Pleistozän
Ein anderer „Haplotyp“ bedeutet aber noch nicht zwangsläufig eine eigene Spezies. Vor allem beim Wolf gibt es innerhalb der eigenen Art zahlreiche Variationen. Canis lupus ist zusammen mit dem Rotfuchs das am weitesten verbreitete Raubtier der Welt (Koblmüller et. Al., 2016: 1728). Historisch besiedelte er beinahe die gesamte nördliche Erdhalbkugel, seine weitere Verbreitung als Haushund noch nicht mitgerechnet (Ersmark et. al., 2016: 2). Der Wolf stellt auch gleichzeitig die chronologisch am längsten verbreitete Tierart unserer Fauna dar (Sommer, 2015: 190). Kein Wunder also, dass es weltweit zu verschiedensten Variationen dieser erfolgreichen Spezies gekommen ist.
Auch wenn noch längst nicht alle Details zur Geschichte des Wolfs geklärt sind, so geht man heute davon aus, dass es zu Beginn des Pleistozäns (also vor „rund“ 2,5 – 1,8 Millionen Jahren) zu einer Expansion der Gattung Canis gekommen ist. Dieses auch als „wolf event“ bezeichnete Kolonisierung der Welt soll durch Gletscherbildungen möglich gemacht worden sein. Diese habe das Entstehen offener Landschaften (unter ihnen auch die „Mammutsteppe“) bewirkt und entsprechend angepasste Räuber begünstigt (Ersmark et. al., 2016: 2). Außerdem erleichterten die ausgedehnten Gletscher eine Besiedelung der Kontinente, da sie viel Wasser aufnahmen und der Meeresspiegel bis zu 120 m tiefer lag, als heute. Landbrücken entstanden. Die Wölfe konnten sich somit fast auf der gesamten Nordhalbkugel ausbreiten und eine Vielzahl Ökomorphe ausbilden, die an die jeweiligen Bedingungen ihres riesigen Verbreitungsgebiets angepasst waren. Doch die goldene Zeit währte nicht ewig.
Genetische Verarmung und Re-Kolonisierung
Die Endphase des Pleistozäns war durch abrupte Veränderungen gekennzeichnet – allein vor 40.000 Jahren kam es zu 13 kurzzeitigen Klimaerwärmungen- und abkühlungen. In dieser Zeit wurde in Europa beispielsweise die Mammutsteppe durch Nadelbaumwälder ersetzt (Sommer, 2015: 187). Dieser Wandel hatte schwerwiegende Folgen für die an das Eiszeitleben angepasste Tierwelt. Noch vor dem Ende der Weichseleiszeit, und vor dem Beginn unserer heutigen Warmzeit, dem Holozän (vor 11.700 Jahren), kam es zu drastischen ökologischen Veränderungen. Viele „klassische“ Tiere der Eiszeit wie der Höhlenlöwe und das Wollnashorn überlebten diesen Wandel nicht – und starben aus (Sommer, 2015: 189). Nicht so der Wolf. Die Wölfe konnten sich an diese Veränderungen anpassen (Sommer, 2015: 190) und überlebten – als eine der wenigen Spezies – das Aussterben der Megafauna am Ende der letzten Eiszeit (Margozata et. al., 2019: 1). Allerdings überstanden auch sie diesen Wandel nicht unbeschadet.
„Flaschenhals“-Populationen
Tatsächlich erlitten die Wölfe weltweit einen signifikanten Rückgang ihrer Populationen – verschiedene Ökomorphe verschwanden (Margozata et. al., 2019: 2). So zum Beispiel besonders große Wölfe, die auf das Jagen von Bisons und Pferden spezialisiert gewesen waren (Sommer, 2015: 189). In dieser Zeit wurde innerhalb des „Wolfgeschlechts“ die sehr diverse Gruppe von Haplotypen durch einen monophyletischen, genetisch einheitlicheren Wolfstyp ersetzt (Ersmark et. al., 2016: 2) – dieser Typ stellt den gemeinsamen Vorfahren der heutigen Wölfe (Margozata et. al., 2019: 1). Wenn auch nicht unbedingt aller.
Man geht davon aus, dass der gemeinsame Vorfahre der modernen Wölfe (in Amerika und Eurasien) vor circa 30.000 Jahren gelebt hat. Deren Populationen haben sich erst nach der Trennung auseinander entwickelt (Margozata et. al., 2019: 25). Wie eine mitochondriale Analyse zeigt, könnte die Stammlinie heutiger Wölfe auf eine Population aus der heutigen Beringstraße (als die Landbrücke noch bestand) zurückgehen. Sie hat dann die Nordkontinente abermals kolonisiert. Man schätzt, dass diese „moderne“ Kolonisation vor ca. 25.000 Jahren ihren Anfang nahm (Margozata et. al., 2019: 2). Allerdings fehlt bis jetzt noch ein aussagekräftiger Beweis für eine Einwanderung beringischer Wölfe nach Eurasien (Margozata et. al., 2019: 9).
Moderne Wölfe haben archaischere Formen verdrängt
Überhaupt erfolgte dieser Prozess in Eurasien scheinbar komplexer und weitaus weniger drastisch als in Nordamerika. Während die modernen Wölfe in Amerika die dortige Diversität komplett verdrängten, erfolgte der Rückgang der eiszeitlichen Vielfalt in Eurasien langsamer und weniger eindeutig (Ersmark et. al., 2016: 9). In Amerika kam somit auch dieses „Flaschenhals-Prinzip“ am stärksten zum Tragen. Selbst die „verdächtigen“, weil vom Rest der amerikanischen Wolfspopulation verschiedenen, mexikanischen Wölfe gehen wohl auf diese eine, relativ rezente Neu-Kolonisation Nordamerikas durch moderne Wölfe zurück (Margozata et. al., 2019: 8). In Europa hingegen weisen die italienischen und iberischen Wölfe einige Besonderheiten auf, die sie in die Nähe eines älteren phylogenetischen Typs rücken. Möglich, dass diese Populationen vom Rest der neuen Kolonisatoren innerhalb der Art isoliert gewesen sind und lange Zeit kein Genfluss stattgefunden hat. So haben sie zumindest einige ihrer ursprünglichen Eigenschaften behalten (Ersmark et. al., 2016: 9).
Japans Platz in der modernen Wolfsgeschichte
Der Grund, warum aber gerade Japan so einen interessanten Ort für die Evolution der Wölfe darstellt, ist der Umstand, dass die Inseln parallel Vertreter der zwei Abstammungslinien beherbergte. Zumindest deuten genetische Untersuchungen darauf hin. Eine Analyse der mitochrondialen Genomsequenzen ergab, dass die großen Hokkaido-Wölfe sehr nah mit den heutigen amerikanischen Wölfen verwandt waren (Matsumura/ Inoshima/ Ishiguro, 2014: 107). Das bedeutet, dass diese Wölfe in der Zeit der „modernen“ Kolonisierungsphase des Wolfsgeschlechts nach Japan eingewandert sind (Matsumura/ Inoshima/ Ishiguro, 2014: 110). Offenbar sind sie in der letzten eiszeitlichen Epoche über eine Landbrücke von der russischen Sachalin-Insel aus Asien nach Japan gekommen, die vor 10.000 Jahren noch existierte (Matsumura/Inoshima/Ishiguro, 2014: 110).
Der „Bonsai-Wolf“ von Honshū blieb auch für die Wissenschaft erstmal ein Mysterium, denn es wurde für lange Zeit weder ein Verwandter gefunden (Koblmüller et. Al., 2016: 1736), noch ein möglicher Vorfahre determiniert (Ishiguro et. Al., 2016: 49). Daher kann man auch nur spekulieren, wie er nach Japan gelangt ist. Man vermutet, dass er im Pleistozän die koreanische Meerenge aus Asien überquert und sogar kurze Strecken schwimmend zurückgelegt hat (Koblmüller et. al., 2016: 1736). Jedenfalls weisen die starken Unterschiede zu dem großen Vetter auf Hokkaido darauf hin, dass die Vorfahren von Canis lupus hodophilax viel früher nach Japan gelangt sein müssen.
Japans wiederholte Besiedelung
Ein Blick auf die Karte erhellt uns die Problematik von Japans Wolfspopulationen. Die Nordinsel Hokkaido stand fast während des gesamten späten Pleistozäns mit Sachalin und über Sachalin wiederum mit dem Festland in Verbindung. Der große Hokkaidowolf könnte also nach Japan über Sachalin (rot) oder Kamschatka (grün) eingewandert sein. Offenbar standen die Wölfe aller besiedelten Inseln miteinander in einem Maße in Kontakt, dass ein permanenter Genfluss zwischen den Hokkaido-Wölfen möglich war.
Für die Vorfahren von Honshūs kleinem Canis lupus hodophilax hingegen ist die koreanische Meerenge (gelb) als möglicher Weg nach Japan relevant (Koblmüller et. al., 2016: 1736).
Mögliche Wege der Wölfe bei der Besiedlung JapansRot: Der Sachalin-Weg führt über den Tatarensund, der gut 7 km breit und nur 4 bis 20 m tief ist und die La-Pérouse-Straße, 43 km breit und meist 20 bis 40 m, an der schmalsten Stelle 60 m tief. Beide Meeresstraßen sind im Winter regelmäßig vereist, der Tatarensund oft zugefroren(Matsumura/Inoshima/Ishiguro, 2014: 110). Grün: Über Kamtschatka und die Kurilen: dieser Weg führt über eine Kette von Vulkaninseln, die in teilweise sehr tiefem Wasser liegen. Die Abstände zwischen den Inseln erreichen heute bis zu 90 km, wie sie vor 25.000 Jahren waren, kann nur spekuliert werden. Heute ist das Kurilenmeer oft vereist, dies könnte es Wölfen ermöglicht haben, den Weg zu wählen. Gelb: Über die Koreastraße: Die Straße ist etwa 200 km breit und hat eine Tiefe von mindestens 90 m, die aber nicht überall erreicht wird. Mit absinkendem Meeresspiegel wurden hier große Gebiete des Meeresbodens trockenes Land, über das zumindest die Vorfahren des Honshū-Wolfes hätten wandern können. Der Meeresspiegel lag vor 25.000 Jahren etwa 100 m tiefer als heute. Die Koreastraße, sowie der Weg vom Festland über Sachalin nach Hokkaido war „trockenen Fußes“ passierbar, die Tsugaru-Straße zwischen Hokkaido und Honshū führte jedoch Wasser. Vermutlich konnten Landtiere sie aufgrund starker Strömungen kaum schwimmend überwinden. |
… und dann … die Überraschung im Jahre 2018
Wie bereits erwähnt, gibt es nur sehr wenige konservierte Exemplare des kleinen Honshū-Wolfs. Eines von ihnen ist das Tier im Londoner Natural History Museum. Es war dereinst aus Japan von dem amerikanischen Reisenden Malcolm Anderson nach England gebracht worden – für sehr wenig Geld hatte er es 1905 lokalen Jägern abgekauft (siehe Teil 1: Der Shamanu). Es handelt sich hierbei um den letzten dokumentierten Vertreter seiner Art – danach begann seine „Existenz“ als Kryptid.
Dieses Exemplar wurde kürzlich von einem Forscherteam der Universität von Kopenhagen einer genaueren Untersuchung unterzogen. Jonas Niemann und seine Kollegen staunten nicht schlecht, als sie dabei Genome einer sehr alten ausgestorbenen Wolfsgruppe entdeckten, die vor mehr als 35.000 Jahre in Sibirien gelebt hat (Sciencemag.org vom 25. September 2018). Die vorläufigen Ergebnisse präsentierten die Forscher im September 2018 auf dem International Symposium for Biomolecular Archeology in Jena. Wie gesagt: Es sind vorläufige Ergebnisse, doch sie eröffnen den Blickwinkel in eine interessante Richtung.
Ein „Eiszeitwolf“ in Japan?
Es scheint, als sei der „Bonsai-Wolf“ von Honshū tatsächlich so etwas wie ein „Relikt“ der alten, pleistozänen Wolfs-Stammlinie. Diese war ja noch von größerer interner Diversität gekennzeichnet als die heutigen Wölfe. Die pleistozänen Gene „lebten im Honshū-Wolf fort“ (Sciencemag.org vom 25. September 2018). Ob das ausreicht, um die Unterart Canis lupus hodophilax nun als eigene Art, Canis hodophilax zu klassifizieren, ist damit allerdings immer noch nicht gesagt. Wir müssen wohl die Ergebnisse der Studie und weitere Forschungen abwarten. Doch spannend sind die Befunde von Jonas Niemann und Kollegen allemal. Vor allem wenn man sie in den weiteren Kontext der Wolfs-Stammesgeschichte und ihren Wandel am Ende der pleistozänen Ära einordnet.
Übrigens: einige Hunderassen, wie der Sibirische Husky, tragen ebenfalls Genome älterer Wolfs-Stammlinien in sich (Margozata et. al., 2019: 9).
Findige Evolution?
Als abschließender Kommentar soll eine globalere Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand gegeben werden. Auch wenn bei der komplexen Entwicklungsgeschichte der Wölfe noch längst nicht alle Details geklärt und noch mehr Stichproben erforderlich sind. So scheinen sich doch langsam die evolutionären Determinanten abzuzeichnen. Das Ende der Eiszeit stellte eine so grundlegende Veränderung dar, dass die verbliebenen Spezies unter enormen Selektionsdruck gerieten. Nicht nur der Wolf reduzierte seine arteigene Vielfalt. Auch der Braunbär ersetzte auf globalem Niveau eine ältere Stammlinie durch eine modernere Form (Margozata et. al., 2019: 9).
Offenbar war die Not groß. Genfluss innerhalb einer Art, aber auch Kreuzungen zwischen eng verwandten Arten geschahen dann wohl häufiger als erwartet. Möglicherweise waren diese Prozesse Teil der evolutionären Reaktion der pleistozänen Arten auf die grundlegenden klimatischen und ökologischen Veränderungen, die der Übergang vom Pleistozän in das Holozän mit sich brachte. So könnten weitere vergleichende Studien zwischen mehreren Arten noch mehr Details von diesem Prozess ans Licht bringen. Dann würde sich auch bestätigen, was gegenwärtig leider nur Vermutung ist (Margozata et. al., 2019: 9). Und da stellen Belege von dem, „was vorher war“ natürlich einen wichtigen Puzzlestein.
Und darin liegt die Bedeutung des Honshū-Wolfs. Canis lupus hodophilax ist seit jeher in sui generis ein spannendes Mysterium aus folkloristischer und zoologischer Perspektive. Doch nun könnte er selbst dazu beitragen, die zahlreichen Inkognitos in der evolutionären Geschichte unserer heutigen Raubtiere zu erhellen.
Aufgrund des Umfanges stellen wir das Literaturverzeichnis für diesen Artikel als pdf zum Download bereit.