Nanotyrannus JaneErgänztes Skelett von "Jane" im Museum. (Foto: Zissoudisctrucker CC-SA 4.0)
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Die Kontroverse um Nanotyrannus war lange eine der wohl berühmtesten Debatten in der jüngeren Dinosaurierforschung. Bereits 1842 fand David H. Dunkle in der Hell Creek Formation (damals noch durchweg als Lance Formation bezeichnet!) den bemerkenswerten Schädel, der zum Zankapfel in dieser Debatte wurde. Von Charles W. Gilmore wurde das Fossil vier Jahre später als weitere Art des Gorgosaurus, in Referenz zum Fundort als G. lancensis beschrieben, zu dem er eine gewisse Ähnlichkeit erkannte. Nachdem schließlich Barnum Brown ebenfalls in Montana das spektakuläre Skelett eines gewaltigen neuen Fleischfressers fand, der 1906 von Henry F. Osborn den eindrucksvollen Namen Tyrannosaurus rex bekam, wurde bereits gemunkelt, dass es sich bei dem Schädel von Dunkles Gorgosaurus nicht vielleicht um ein Jungtier des gewaltigen Fleischfressers handeln könnte.

 

Schädel des Holotyps von Nanotyrannus lancensis
Diesen Schädel fand David Dunkle 1842, er sollte später zum Holotyp von Nanotyrannus lancensis werden. (Foto: James St. John, CC-BY-SA 2.0)

 

Im Laufe der Jahrzehnte erfuhr T. rex einen ungeheuren Popularitätszuwachs und mauserte sich zum wohl bekanntesten Dinosaurier der Pop-Kultur. Mit recht kann man wohl behaupten, dass Tyrannosaurus rex der wohl einzige Dinosaurier ist, den fast jeder Mensch mit korrektem Gattungs- aber auch Artnamen anzusprechen weiß. Nicht zuletzt aufgrund dieser enormen Bekanntheit ist er seither auch Gegenstand unzähliger Forschungsprojekte gewesen und gehört zu den am besten erforschten Dinosauriern der Welt. Über 70 Exemplare wurden inzwischen gefunden, darunter auch einige auch sehr vollständige, wie z.B. „Sue“, das heute mit der Inventarnummer FMNH PR2081 im Field Museum in Chicago steht, oder Tristan (MB.R.91216), den auch viele deutsche Dino-Fans bereits im Naturkundemuseum Berlin bestaunen konnten.

 

Tristan in der ersten Sonderausstellung im NKM
Tyrannosaurus „Tristan-Otto“ lockte hunderttausende zu seiner Ausstellung nach Berlin

 

Forschungslage

Über kaum einen Dinosaurier wissen wir inzwischen so viel wie über T. rex. Seine möglichen Sinnesleistungen und damit einhergehend seine wahrscheinliche Lebensweise sind vergleichsweise gut erforscht. Ein scheinbar ewiger Knackpunkt und Thema erbitterter Kontroversen war und ist noch immer die Frage, wie der „König der Tyrannenechsen“ (so die deutsche Übersetzung seines Namens) seine Jugend verbrachte, und ob er sich seine Herrschaft nicht vielleicht auch mit anderen gefährlichen Fleischfressern in seinem Ökosystem teilen musste. Und genau darum geht es im eingangs angesprochenen Streit.

Tatsächlich wurden inzwischen mehrere kleine Exemplare gefunden, die von vielen Forschern als T. rex-Jungtiere interpretiert wurden. Einige Experten sahen aber so viele massive Unterschiede, dass sie ihre Überreste als die einer komplett anderen Gattung zuwiesen. Bakker, Williams & Currie nahmen 1988 eine Neubeschreibung des von Dunkle gefundenen Schädels vor, wobei sie das Exemplar eine eigene Gattung stellten, nämlich Nanotyrannus. Immerhin war dieser Schädel auch proportional betrachtet viel schmaler als der eines ausgewachsenen T. rex, und in seinen Kiefern steckten zudem auch mehr Zähne.

Jane (BMRP 2002.4.1) und die Jungtier-Debatte

Ein weiteres Exemplar, dass den Spitznamen „Jane“ trägt (BMRP 2002.4.1) und 2001 in Montana entdeckt wurde, heizte die Kontroverse weiter an. Ihr Schädel ähnelt frappierend dem Holotyp-Schädel von Nanotyrannus. Allerdings war Jane zum Zeitpunkt ihres Todes erst zwischen 11 und 14 Jahren alt, und sie zeigt Anzeichen dafür, dass sie noch nicht ausgewachsen war, als sie starb.

 

Isoliertes Skelett von "Jane"
Isoliertes Skelett von „Jane“, einem Nanotyrannus spec. (Foto: McDinosaurhunter CC-BY-SA 3.0)

Erickson et al. konkludierten 2004, dass Tyrannosaurus im Laufe seiner Jugend eine dramatische Wandlung im Erscheinungsbild durchgemacht hätte. Anfangs sei er noch ein graziler wendiger und sehr schneller Jäger gewesen, bevor er nach einem enormen und sehr schnellen Wachstumsschub in seiner Teenie-Zeit zu einem tonnenschweren Kraftpaket heranwuchs. Eine vielbeachtete Studie dazu veröffentliche Thomas Carr im Jahre 2020, in welcher er die Wachstumsphasen von T. rex mit etlichen Belegen rekonstruierte – eine wahre Mammutaufgabe.

Dies spaltete die kleine Welt der Theropoden-Experten in zwei Lager: die einen Experten hielten an Nanotyrannus als eigene Gattung fest, während die anderen in allen kleineren Exemplaren bloß Jungtiere und bestenfalls Teenager sahen. In den letzten zehn Jahren setzte sich aber allmählich die Hypothese durch, dass sowohl Jane, der Burkes isolierter Schädel sowie auch mehrere andere kleinere Exemplare von tyrannosauroiden Raubsauriern wohl doch allesamt die Jungtiere von Tyrannosaurus rex repräsentierten, und dass es somit gar keinen Nanotyrannus gegeben hätte.

Die Gültigkeit von Nanotyrannus

Doch einige Exemplare, die in den letzten Jahren noch einmal intensiv untersucht wurden, brachten die Debatte erneut ins Rollen. Offenbar hatten manche „Teenager“ nicht nur mehr Zähne (was vielleicht noch durch Ontogenese zu erklären wäre!), aber auch deutlich längere Arme und auch mehr Schwanzwirbel als ein ausgewachsener Tyrannosaurus. Da Gliedmaßen und Wirbel aber nicht nach dem Wachsen wieder schrumpfen oder gar ganz verschwinden können, war die Debatte bald wieder in vollem Gange.

Im Oktober 2025 wurde die Gültigkeit von Nanotyrannus in einer umfassenden Studie von Zanno & Napoli bestätigt. Den Ausschlag gab „Bloody Mary“ (BHI 6437), einer der beiden berühmten „Dueling Dinosaurs“, einem spektakulären Fossil, dass 2006 in einem massiven Block entdeckt wurde und einen Triceratops sowie einen vermeintlich jungen Tyrannosaurus zeigt, die wahrscheinlich im Kampf miteinander verendet sind. Bei der Untersuchung der Knochen stellte sich aber nun heraus, dass der Fleischfresser zum Zeitpunkt seines Todes bereits ausgewachsen war und ein Alter zwischen 17 und 21 Jahren erreicht hatte. Im selben Artikel ordneten Napoli & Zanno ordneten auch Jane der Gattung Nanotyrannus zu, allerdings einer zweiten Art, die fortan Nanotyrannus lethaeus heißen wird.

 

Eine Gruppe Nanotyrannus attackiert einen jungen T. rex
Eine Gruppe Nanotyrannus greift einen jungen Tyrannosaurus rex an. Bild von Anthony Hutchings (CC BY-NC-ND)

 

Was ist „Jane“?

Zanno & Napoli argumentieren für eine zweite Nanotyrannus-Art, weil sich Jane und Bloody Mary erstens doch sehr voneinander unterscheiden. Bloody Mary war zum Todeszeitpunkt deutlich älter, aber wesentlich kleiner als Jane. Allerding wäre Jane, wenn sie wirklich ein jugendlicher T. rex wäre, in ihren Teenager-Jahren nur sehr langsam gewachsen, hätte anschließend eine abrupte Wachstumsplateauphase erreicht und wäre danach wiederum in eine längere Wachstumsphase eingetreten. Dieses Entwicklungsmuster passe zu keinem anderen Archosaurier und würde auch dem Wachstumsschema von Bloody Mary widersprechen. Außerdem stellten sie fest, dass bestimmte Merkmale wie etwa die Resorption der Kieferhöhle, die notwendig wäre, damit Nanotyrannus und Tyrannosaurus als selbe Art betrachten werden könnten, bei keinem lebenden Amnioten belegt sind.

Zanno & Napoli haben in ihrer Studie somit die beiden Nanotyrannus-Arten in eine eigene Familie gestellt, weitab der Tyrannosauridae. Sie gehören nun zum gleichen Zweig wie Dryptosaurus und der noch ältere Appalachiosaurus, die den Namen Nanotyrannidae bekam. Da aber Othniel C. Marsh bereits 1890 die Familie Dryptosauridae aufstellte, könnte es sein, dass die neue Familienzuweisung bald wieder herausgefordert wird. Dryptosauridae ist jedenfalls der ältere Name für diese Klade aus Tyrannosauriern aus Appalachia.

 

Nanotyrannus Jane
Ergänztes Skelett von „Jane“ im Museum. (Foto: Zissoudisctrucker CC-SA 4.0)

 

Woher kam Nanotyrannus?

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal betrifft nämlich die Knochenproportionen: Arm-, Handgelenk- und Handknochen von Nanotyrannus sind größer als die entsprechenden Knochen bei Tyrannosaurus. Zwar können die Gliedmaßen eines Tieres im Laufe seines Heranwachsens an einem gewissen Punkt aufhören zu wachsen, sodass sie proportional betrachtet dann bei den älteren Individuen viel kleiner wirken. Ein gutes Beispiel ist bei uns Menschen der Kopf, der bei Säuglingen und Kleinkindern proportional betrachtet bereits ausgesprochen groß ist, aber im Laufe der Jugend sich kaum noch weiter vergrößert. Es ist aber ontogenetisch völlig unmöglich, dass sich ein bereits gewachsener Knochen im Laufe der Entwicklung wieder so immens zurückbildet.

Auch das gesamte Schema der Anatomie der Arme passt schon grundsätzlich nicht zu einem Vertreter der Tyrannosauriden aus Laramidia. Nanotyrannus stammt somit sehr wahrscheinlich nicht von diesen ab, sondern gehört zu einer ganz eigenen Linie von Tyrannosauroiden, die sich vermutlich isoliert und nach einer längeren geographischen Trennung von den Tyrannosauriden entwickeln. Naheliegend ist eine Herkunft aus Appalachia, dem Ostteil des nordamerikanischen Kontinents, der während der Kreidezeit tatsächlich sehr lange von Laramidia, dem Westteil, getrennt war. Von dort ist aus der späten Oberkreide Dryptosaurus bekannt, von dem mehrere Skelette in New Jersey an der Ostküste der USA gefunden wurden, also weit entfernt vom Lebensraum des T. rex.

 

Nordamerika in der Kreidezeit
Nordamerika in der Kreidezeit

 

Nanotyrannus – Eine invasive Spezies?

Die eigentliche Sensation ist für mich also nicht unbedingt das, was jetzt durch alle Schlagzeilen geistert. Natürlich ist es schon toll, dass die Frage um die Existenz von Nanotyrannus nun mit einiger Klarheit beantwortet werden kann. Dies eröffnet auch einen gewaltigen Raum für neue Studien, weshalb die Fachwelt auch gerade ziemlich aus dem Häuschen ist. Tatsächlich ist Nanotyrannus aber nun nicht wirklich etwas Neues. So einige Experten, wie vor allem Nick Longrich, verweisen bereits mit einem deutlich süffisanten Unterton darauf, dass für sie über diesen neuen Status Quo bereits lange Klarheit herrschte, teilweise sogar seit Jahrzehnten.

Was mich und den Leser dieses Artikels, der ihn schließlich auf einer Kryptozoologie-Seite gefunden hat, aber umso mehr verblüffen sollte, ist die Tatsache, dass wir es hier offenbar mit einem wirklich seltenen Fall von Paläo-Kryptozoologie zu tun haben. Der Nachweis eines zur Debatte stehenden Dinosauriers ist schließlich kaum weniger spektakulär, als es die Entdeckung eines Kryptiden wäre. Sollte sich die Appalachia-Hypothese durchsetzen – wonach es derzeit aussieht – hätten wir hier sogar einen echten Fall eines Out-of-Place-Tieres in der Kreidezeit und den ersten Nachweis einer invasiven Spezies aus dem geheimnisvollen Appalachia in Laramidia überhaupt. Und es könnten sogar gleich zwei gewesen sein!

Über Dinosaurier aus diesem Teil Nordamerikas ist derzeit nämlich kaum etwas bekannt, da sich dort kaum Aufschlüsse aus der späten Kreidezeit erhalten haben. Die Dinosaurier-Fauna des spätkreidezeitlichen Appalachia ist ein absolutes Mysterium in der Paläontologie. Dass Nanotyrannus hierauf unerwartet neues Licht wirft, ist für mich die eigentliche Sensation.

 

Größenvergleich Nanotyrannus
Größe der Nanotyrannus-Exemplare

 

Irrer Zufall oder richtiger Riecher?

Die These, dass Nanotyrannus – wenn es ihn denn gab – vielleicht eine invasive Spezies aus Appalachia ist, habe ich bereits 2024 mit Nick Longrich, einem Befürworter der Existenz von Nanotyrannus, diskutiert. Longrich zeigte sich als Experte dafür durchaus offen. Auf Basis dieses kurzen Chats habe ich kurz vor Erscheinen der aufsehenerregenden Studie von 2025, als noch nicht über ihren Inhalt oder ihr Thema bekannt war, eine kleine Satire geschrieben. Die Gerüchteküche über ein neues, wirklich großes Paper, dass die Fachwelt erschüttern würde, geisterte zu diesem Zeitpunkt bereits durch alle Paläo-Foren, und Longrich selbst fiel durch einen Kommentar auf, indem er schrieb, dass viele seiner Kollegen wohl in den nächsten Tagen ziemlich blöd aus der Wäsche gucken würden.

Mit einem deutlichen Augenzwinkern habe ich dann meine Vermutung, um was es wohl gehen würde, auf meiner Seite kundgetan:

„Nick Longrich et al. weisen nach, dass einer der Dueling Dinosaurs ein Nanotyrannus ist – und zwar der, den man zuvor für einen Ceratopsier gehalten hat.“

Ist das nicht irre? Gut, es waren nun Zanno & Napoli (und nicht Longrich!), die das Nanotyrannus-Rätsel lösen konnten, aber es ging tatsächlich um die „Dueling Dinosaurs“, wenn auch der Triceratops immer noch ein Triceratops ist. Aber offenbar hatte ich hier absolut den richtigen Riecher!

2025 wurde meine Vermutung zur Herkunft des Nanotyrannus nun auch von den meisten Experten aufgegriffen. Appalachia und eine Verwandtschaft zu Dryptosaurus gelten nunmehr als am wahrscheinlichsten. Da die Debatte über die genauen Verwandtschaftsverhältnisse aber noch läuft und auch sehr wahrscheinlich noch intensive Studien dazu in der kommenden Zeit erscheinen werden, müssen wir auch hier erst einmal geduldig abwarten, was die Daten zeigen. Nanotyrannus hat die Forschung schon zu oft komplett umgeworfen und auf den Kopf gestellt, sodass wir auch auf weitere Überraschungen gefasst sein müssen.

Bleibende Skepsis

Ich blicke allerdings selbst nach wie vor mit einiger Skepsis auf das Exemplar Jane und die neu aufgestellte Art Nanotyrannus lethaeus. Ohne die Argumente zu ignorieren, die auch bei Jane für eine eigene Gattung sprechen, ist es doch unübersehbar, dass Jane deutlich größer und massiger ist als Bloody Mary. Gleichzeitig war sie mit 11 bis 14 Jahren aber deutlich jünger, als sie starb, und befand sich intensiver Forschung zu urteilen immer noch im Wachstum. Könnte Jane also doch ein junger T. rex sein? Und was ist all den anderen kleinen Exemplaren, wie z.B. „Jordan“ (LACM 28471), „Baby Bob“ (der sich in einer Privatsammlung befindet) oder auch „Rocky“ aus dem Dinosaurier-Museum im Altmühltal? Ich würde hier sehr vorsichtig sein, sie alle nun in die Schublade zu Nanotyrannus zu stecken.

 

Rocky
Rocky, bei dem noch unklar ist, ob es sich um einen juvenilen Tyrannosaurus oder einen adulten Nanotyrannus handelt, im Dinopark Altmühltal (Autor vorne links)

 

So sieht es auch Experte Thomas Holtz. Mehrfach auf die aktuelle Studie angesprochen, und gefragt, welche der Exemplare vielleicht doch Baby- oder Teenie-Rexe sind, verwies er auf aktuelle Studien, die derzeit bereits zu mehreren Exemplaren laufen. Demnach scheint es sich bei „Teen Rex“ aus dem Denver Museum wohl mit größter Wahrscheinlichkeit nicht um einen Nanotyrannus zu handeln. Gleiches gelte wohl auch für das „U-Chicago-Exemplar“.

Trotz meiner Skepsis halte ich aber die These, dass es vielleicht sogar mehrere invasive Arten aus Appalachia am Ende der Kreidezeit in Hell Creek gegeben haben könnte, für äußerst spannend und freue mich deshalb sehr auf weitere Forschungen zu diesem Thema.

Von Markus Kretschmer

Ich wurde 1984 in Wolfsburg geboren und wuchs in dem beschaulichen Dörfchen Bokensdorf im Landkreis Gifhorn in Niedersachsen auf. Schon in meiner Kindheit begeisterte ich mich für die Urzeit und insbesondere für Dinosaurier. Diese Leidenschaft wurde neu belebt, als ich begann, für meinen Roman „Die weißen Steine“ zu recherchieren, der im Ehrlich Verlag erschienen ist. Ich habe Geschichte, evangelische Religions- und lateinische Sprachwissenschaften studiert und arbeite heute als Ganztagsbetreuer an einer Gesamtschule in Kiel, wo ich meine neue Heimat gefunden habe.