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Mehrere Organe der britischen Presse melden ein seltsames Skelett, möglicherweise das einer Seejungfrau, das am Hightown Beach bei Liverpool angeschwemmt wurde. Finderin Kirsty Jones war am 1. Juni 2021 mit ihrer und einer befreundeten Familie zu einem Picnic unterwegs. Sie erzählte dem lokalen Newsportal ECHO „Wir fanden das, als wir den Strand entlang gingen. Keiner wusste, was es ist.“

 

 

Der Fund

Später ergänzte sie „Ich sagte meinen Kindern ‚das sieht wie eine Seejungfrau aus‘. Es hatte einen Fischschwanz.“

 

Meerjungfrau?
Die „Meerjungfrau“ von Kirsty Jones

 

Quelle der Meldung und des Fotos: ECHO

 

Ganz herzlichen Dank an Ulrich Magin, der mich auf die Zeitungsmeldung aufmerksam machte!


Die Analyse

Die Analyse dreht sich um zwei Punkte, wie nahezu immer in der Kryptozoologie: Ist das Bild echt? Was zeigt es?

Ist das Bild echt?

Die kurze Antwort hierzu ist: ja, es wirkt so. Das Bild ist so schlecht, dass man darauf kaum Details erkennen kann. Dazu kommt, dass es im Erscheinungsbild dem eines stark skelettierten Kadavers, der an einen Strand gespült wurde, sehr gut entspricht.

Auch die Fotografin ist nach kurzer Websuche nicht zu identifizieren. Dies mag daran liegen, dass es eine Berufs-Fotografin, eine im November 2020 an Corona verstorbene Pflegehelferin und eine professionelle Kite-Surferin gleichen Namens gibt. Auch eine Backpackerin, die im Jahr 2000 in Thailand ermordet wurde, trug diesen Namen.
Nichts deutet auf eine Person hin, die sich hier mit einer absichtlichen Falschmeldung in den Vordergrund spielen möchte.

 

Was zeigt das Bild?

Das Bild ist leider nicht sehr aussagekräftig. Es ist aus einer sehr ungünstigen Position aufgenommen und zeigt somit sehr wenige Details. Dazu kommt die übliche, geringe Auflösung eines Web-Bildes. Dennoch kann man einiges erkennen.

Das Bild wurde, wie berichtet, am Strand aufgenommen. Es zeigt einen langen, breiten Sandstrand, im Hintergrund sind spärlich begrünte Dünen und eine Abgangstreppe mit mindestens einem Absatz zu erkennen. Weitere Bildelemente habe ich mit Nummern bezeichnet:

 

  1. Kinderwagen, vermutlich ein Buggy. Er ist der einzige halbwegs brauchbare Größenvergleich im Bild. Durch ihn lässt sich die Größe der „Seejungfrau“ etwa bei 2 m (plusminus etwa 0,5 m) einordnen.
  2. Schädel. Er ist kaum zu erkennen, scheint aber recht schmal zu sein. Der Hinterschädel ist nicht erkennbar, daher ist dieser Schluss mit Vorsicht zu beachten.
  3. Brustkorb: Lange, eher schlanke Rippen eines tiefen Brustkorbes. Sie sind im vorderen Bereich mit einem Brustbein verwachsen. Der Brustkorb wirkt breit und eher flach. Schultern und Vorderextremitäten fehlen.
    Die Lage des Brustkorbes zeigt an, dass der Kadaver auf dem Rücken liegt.
  4. offene Rippen, die nicht mit dem Brustbein verbunden sind
  5. Wirbelsäule. Möglicherweise ist sie an dieser Stelle gebrochen und verdreht.
  6. Wirbelfortsätze, unklar ist, ob es sich hierbei um Quer- oder um Dornfortsätze handelt. Es sieht aber eher nach Querfortsätzen aus. Sicher ist diese Schlussfolgerung nicht.
  7. Der Beckenbereich des Kadavers ist teilweise noch mit Haut bedeckt. Ein ausgeprägter Hüftknochen ist nicht zu sehen. Hinterextremitäten fehlen
  8. Reste von Hautgewebe, die die Hüfte abdecken und schlecht erkennbar halten. Unten ist ein größerer Rest, der von der Finderin als „Fischschwanz“ interpretiert wurde.
  9. Fäden, entweder aus freigesetzten Collagenfasern oder Reste von Fischernetzen. Der Schwanz wird weiter mit einer kräftigen Wirbelsäule gestützt.
  10. Schatten – von was? von der Fotografin?

Das Existenz eines Brustbeins schließt einen Fisch aus. Amphibien und Reptilien fallen aus geographischen Gründen ebenfalls aus, ein Vogel ist es ebenso nicht. Bleibt also ein Säugetier.

 

Welche Tiere kommen in Frage?

Der County Merseyside liegt an der Irischen See zwischen den beiden britischen Hauptinseln. Sie ist eines der Gewässer in Europa mit der größten Diversität von Meeressäugern. Fischotter, Seehunde und Kegelrobben gibt es hier ebenso wie Schweinswale, Gewöhnliche Delfine und Große Tümmler. Zu den selteneren Kleinwalen gehören der Langflossen-Grindwal, Orcas, Weissschnauzen- und Streifendelfine sowie Rundkopfdelfine (Risso-Delfine). Auch größere Wale findet man in großer Artenzahl: Nördliche Entenwale, Pottwale und unter den Bartenwalen die Atlantischen Zwergwale, Finnwale, Seiwale, Buckenwale und Atlantische Nordkaper. 

Aufgrund der angenommenen Größe von etwa 2 m kommt ein Großwal nicht in Frage. Ein Vergleich mit Museum-Skeletten lässt aber kaum Fragen offen:

 

Schweinswal-Skelett
Skelett eines Hafenschweinswals Phocoena phocoena by André-Philippe Picard

 

Als typisches Walskelett zeigt das Skelett des (Hafen-) Schweinswals zahlreiche Charakteristika, die auch das vermeintliche Meerjungfrauen-Gerippe zeigt:

(Die Nummern entsprechen der Position auf dem Bild)

3. Es gibt einen vergleichsweise flachen Brustkorb.

4. Die ersten Rippen sind mit dem Brustbein verbunden, weitere stehen offen. Dies schließt bereits die meisten Landtiere aus.

6. Kräftige Querfortsätze für starke Rückenmuskulatur

7. Kein sichtbares Becken (schließt alle Landtiere aus)

9. starke Schwanzwirbelsäule (schließt den Seehund und die Kegelrobbe aus)

 

Fazit

Es handelt sich bei dem Skelett um einen Kleinwal. Da weder die Vorder-Extremitäten noch der Schädel sichtbar sind, ist keine weitere Identifikation möglich.

 

Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn in den nächsten Tagen noch weitere Bilder des Kadavers auftauchen würden. Wir bleiben am Ball! – Nachtrag bei Wiederveröffentlichung: Leider war das nicht der Fall.


Hinweis: Bereits Ende November 2020 wurde in England ein Teil einer vermeintlichen Seejungfrau gefunden. Natürlich hat sich die Sache als Fake erwiesen.

Von Tobias Möser

Tobias Möser hat Biologie, Geologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schon als Kind war er vor allem an großen Tieren, Dinosauriern, später Walen interessiert. Mit der Kryptozoologie kam er erst 2003 in näheren Kontakt. Seit dieser Zeit hat er sich vor allem mit den Wasserbewohnern und dem nordamerikanischen Sasquatch befasst. Sein heutiger Schwerpunkt ist neben der Entstehung und Tradierung von Legenden immer noch die Entdeckung „neuer“, unbekannter Arten. 2019 hat er diese Website aufgebaut und leitet seit dem die Redaktion.