„Augen sah ich und Zähne, aber kaum Formen oder Farben. Das Gesicht nur ein grauer Schatten, der Körper bloß ein schwarzer Umriss, ragte die Gestalt bedrohlich vor mir auf. Sie war vollkommen behaart, stand auf zwei kurzen Beinen, und die starken Arme hingen hinab bis fast zu den Knien. Ich schätzte ihre Größe auf mehr als zwei Meter.“
Reinhold Messner
Der Yeti
Kaum ein anderer Kryptid erlangte in der Weltöffentlichkeit so viel Aufmerksamkeit wie der “Schreckliche Schneemensch” oder Yeti – und das über eine lange Zeitspanne hinweg. Laut Reinhold Messner hat sich die Figur des Yetis vermutlich im Tibet des 16. Jahrhundert gebildet (Messner, 1987) – doch finden sich Elemente der Legende schon in jahrhundertealtem, vorbuddhistischem Sagengut (Siiger, 1978: 423). Die Berichte vom sagenumwobenen Schneemenschen wurden von Himalaya-Bergsteigern vor allem ab Anfang des letzten Jahrhunderts in den Okzident getragen (Messner, 1987) – mit im Gepäck hatten sie in einigen Fällen auch Fotos von riesigen Fußabdrücken, die auf ein übermannsgroßes Wesen hindeuteten, das die eisigen Pässe im Hochgebirge auf zwei Beinen durchquert.
Ein Amalgam verschiedener kultureller Traditionen
Für den Yeti gibt es in den Himalaya-Ländern verschiedene Bezeichnungen und “Arten”. Allerdings stellt uns schon die Herkunft seines Namens vor Probleme. Eventuell geht der Yeti auf eine fehlerhafte Aussprache des Sherpa-Begriffes für die Kreatur, Yeh-teh (“Tier felsiger Orte”) zurück. Möglich ist aber auch, dass der Begriff sich vom Wort Meh-teh (“Mensch-Bär”) herleitet (Loxton/Prothero, 2013: 75) und sich auf ein menschengroßes und kräftiges Geschöpf bezieht, das in den höher gelegenen Wäldern leben soll (Shuker, 1996: 115).
Daneben findet sich bei den Tibetanern der Begriff Dzu-teh (“Vieh-Bär”). Dzu-teh meint jedoch gleichzeitig auch den Himalaya-Braunbären Ursus arctos isabellinus. Ebenso verhält es sich mit den tibetanischen Wörtern chemo oder dremo (Loxton/Prothero, 2013: 75) Da hingegen spricht der tibetanische Begriff mu rgod/mi rgod (“wilder ungezähmter Mann”) von einer haarigen, affenähnlichen Kreatur. (Siiger, 1978: 422)
Dämon, Lemur, Jagdpatron und Bär
Als fester Bestandteil der tibetanischen Sagenwelt dürfte es auch nicht weiter verwundern, dass sich in Tibet, Nepal und Sikkun verschiedene Varianten seines Ursprungs finden. In einigen Erzählungen wird er als das Kind einer Frau und eines Lemuren geschildert. In anderen Berichten ist der Vater ein großer Dämon (Rätsch/Probst, 1985: 116f.) Bei den Lepchas aus Sikkim, die mitunter auf eine sehr von einer Jagd- und Agrargesellschaft geprägten Mythologie zurückblicken können (Siiger, 1978: 422), symbolisierte der “Schneemensch” oder pong rum einst eine übersinnliche Kreatur, die eng mit dem Jagderfolg verwoben war. (Siiger, 1978: 424 – 425) Ihre physische Manifestation hatte sie als Bär (Siiger, 1978: 422).
Mit der Einfuhr der Feuerwaffen vernachlässigten die Menschen jedoch ihre Beziehung zu ihrem übersinnlichen Jagdpatron – daraufhin verschlechterte sich das Verhältnis. Der pong rum wurde zu einer bösen Kreatur, die nach den Jägern trachtete im Falle, dass sie den Kult vernachlässigten, den sie ihm schuldeten: So ein Jäger im Ruhestand, als er seine jährlichen Opfergaben vergaß. In der Nacht warf “Etwas” Steine auf seinen Orangenbaum. Trotz reumütiger Schuldbekundungen und nachträglicher Opfergaben war es zu spät. In einer anderen Nacht hörte er seinen Hund bellen und ganz komisch winseln. Als der Jäger nach draußen ging, fand er seinen Schützling – tot – und ohne Zeichen von Verwundung (Siiger, 1978: 427 – 428).
Tatsächlich handelt es sich bei dem “originalen” Yeti aus der himalayischen Folklore also um ein Amalgam aus verschiedensten kulturellen Traditionen und Sagen, bei dem von Anfang an eine Verschmelzung mit Himalayas Braunbären auf ganz natürliche Weise gegeben ist (Loxton/Prothero, 2013: 76).
Von der mythologischen Sagengestalt zum Kryptid
Mögen über die Wechselbeziehungen der vielen Namen und Bedeutungen in der himalayaischen Folklore auch noch so viele Unklarheiten bestehen:
Sicher ist, dass der Begriff vom “schrecklichen Schneemenschen” (im englischen Original: “Abominable Snowman”) auf die Everest Reconnaissance Expedition im Jahre 1921 zurückgeht, welche vom Alpine Club und der Royal Geographical Society gesponsert und von Lieutnant Colonel Charles Howard Bury geleitet wurde. Sie versuchte als einer der ersten Missionen ihrer Art eine Route zur Besteigung des Mount Everest zu finden. Auf 20 000 Fuß Höhe fand die Expedition Spuren, die nach einem ersten Eindruck menschenähnlich aussahen – diese stellten sich im Nachhinein nach Aussage der europäischen Teammitglieder als Wolfsspuren heraus, der seine Hinterpfoten in die Spuren der Vorderpfoten gesetzt hatte. Die begleitenden Sherpas waren von den Abdrücken jedoch in helle Aufregung versetzt und ordneten die Spuren einem wilden, haarigen Mann zu, die in den unzugänglichsten Bergregionen lebten.
Nach ihrer Heimreise wurden alle Expeditionsmitglieder von Journalist Henry Newman befragt. Dabei kam das Thema mit den seltsamen Fußabdrücken erneut auf. Während die Europäer fast schon gelangweilt von einem Wolf sprachen, fiel bei den lebhaften Erzählungen der Sherpa-Träger der Name Metoh Kangmi – “schrecklicher Schneemensch” (bei Henry Newman im Original: “Abominable Snowman”). Die Träger lieferten auch eine Beschreibung: wilde Männer mit langem Haar, das ihr Gesicht auf dem Weg bergab bedeckte… Durch Newmans Artikel wurde dieser schreckliche Mensch weit über die lokale Folklore des Himalayas hinaus bekannt. Der Yeti als internationaler Kryptid war geboren (Loxton/Prothero, 2013: 76 – 77).
Einziger Wermutstropfen: Die Konnotation “schrecklich” beruht eventuell auf einer falschen Übersetzung. Vielmehr wäre mit dem Begriff metoh “schmutzig” oder “eklig” gemeint gewesen (Loxton/Prothero, 2013: 77).
Shipton´s Fußabdruck
Den Westen erlangte das prominenteste Indiz seiner Existenz schließlich im Jahre 1951. Der englische Bergsteiger Eric Shipton brachte aus dem Himalaya ein Foto von einem riesigen Fußabdruck mit. (Shuker, 1996: 115) Ein daneben gelegter Eispickel illustriert die schier unglaubliche Größe des Fußes.
Eric Shipton konnte nie einer Fälschung überführt werden (Naish, 2017: 144). Allerdings gibt es zahlreiche Ungereimtheiten um die Anzahl der Fußwege am Fundort sowie der dort gemachten Fotos in den Aussagen der Expeditionsmitglieder (Loxton/Prothero, 2013: 87). Der Bergsteiger-Schriftsteller Andrew Salkeld berichtete zudem über Shiptons Hang, andere Bergsteiger zu verulken (Loxton/Prothero, 2013: 88). Ferner sind die irregulären, scharfen Vertiefungen an der vermeintlichen Sohle des Yeti-Fußes nicht typisch für Abdrücke von Primaten im Schnee. Vielmehr folgt aus diesen Vertiefungen, dass die vermeintlichen “Zehen” nachträglich wohl hinzugefügt worden sind – zum Beispiel mittels einer menschlichen Hand (Naish, 2017: 144).
Was auch immer die Realität hinter Shiptons Fußabdrücken gewesen ist. Das Foto von der Spur mit dem Eispickel stimulierte großes Interesse am Yeti. Sie inspirierte weitere Expeditionen, um die mysteriöse Kreatur zu finden (Loxton/Prothero, 2013: 87).
Yeti-Expeditionen
Seit die Geschichten vom “schrecklichen Schneemenschen” und die Fotos von Fußabdrücken die Weltöffentlichkeit erreichten, hat man über die Realität hinter dem Mythos des Yetis viel geforscht und spekuliert. Hinter einem großen Teil der vermeintlichen Yeti-Hinweise verbarg sich allerdings eine ernüchternde zoologische Realität.
Im Rahmen einer Expedition unter Leitung von Sir Edmund Hillary und Desmond Doig in den 1960er Jahren untersuchte man beispielsweise eine Reihe von Yeti-Fellen und Skalps, die ihnen in den Klöstern gezeigt wurden. Die Felle entpuppten sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Pelze von Tibetbären. Die Skalps gingen auf Präparationen von gämsenverwandten Tieren zurück. Auch Fußspuren, die von den Sherpas dem Yeti zugerechnet wurden, erwiesen sich in den meisten Fällen als Spuren von kleineren Säugern. Die Trittsiegel hatten sich durch das Anschmelzen in der Sonne vergrößert (Doig, 1971: 13).
Reinhold Messners Suche nach dem Yeti
Auch Reinhold Messner schließt sich nach jahrelanger Recherche der These an, dass hinter dem Yeti ein Tier aus der schon bekannten Fauna steckt. Dessen war sich Reinhold Messner am Ausgangspunkt seiner Nachforschungen allerdings nicht so sicher. Sein Interesse an der Legende war die Sichtung eines ihm unbekannten Tieres in einer abgelegenen Gegend in Tibet:
„Lautlos wie ein Gespenst“…
„Und dann, lautlos wie ein Gespenst, trat etwas Großes, Dunkles in eine Nische zwischen das Rhododendrongestrüpp, hinter dem sich der Steig dreißig Schritte weiter vorne verlor. Ein Yak, dachte ich und freute mich schon auf die Begegnung mit Tibetern, eine warme Mahlzeit am Abend sowie eine Behausung für die Nacht.“
(Messner, 2006: 13)
Doch da waren keine Yaks und auch keine Tibeter. Nachdem das unbekannte Geschöpf wieder verschwunden war, entdeckte Messner riesige Fußspuren im feuchten Lehmboden. Geschockt und durchaus mit Angst erfüllt machte er sich auf, eine sichere Zuflucht zu finden, bevor die Nacht hereinbrach. Kurze Zeit später tauchte das Wesen wieder auf und dieses Mal war mehr von ihm zu erkennen. Es handelte sich dabei um ein zweibeiniges behaartes Wesen. Aufgrund der erkennbaren Augen und Zähne machte es einen sehr bedrohlichen Eindruck auf Messner. Was die genaue Form betrifft, konnte er allerdings auch nicht mehr als einen grauen Schatten erkennen. (Messner, 2006: 17)
Ein Bär-Mensch?
Bei Gesprächen mit den Einheimischen offenbarte sich jedoch eine andere Vorstellung vom Yeti als jene, die im Westen vorherrscht und von einer Art Affenmensch ausgeht. Im Gegensatz dazu sehen die Personen, die ihren Lebensraum mit dem Yeti teilen, das Wesen als eine Art Bär-Mensch (Messner, 2006: 28). So entpuppte sich eine angebliche Yeti-Mumie, die er in einem Kloster fotografierte, denn auch als präparierter Tibetbär (Anda, Bela: 1998).
Der tibetische Braunbär (Ursus arctos pruinosus), so Messners These, sei die mythologisch verkleidete zoologische Realität hinter dem Yeti. Allerdings sei der Yeti gleichzeitig auch mehr als reine zoologische Realität, sondern mythologisch verkleidete zoologische Realität. Oder um Reinhold Messer in den Worten Ulrich Magins zu rezitieren: der Yeti ist nicht der Bär, sondern die kulturelle Erinnerung an den Bären (Magin, 1999: 106 – 109).
Der Yeti und Rassenwahn
Reinhold Messners langjährige Recherche war nicht die erste ausgedehnte Suche nach dem legendären Schneemenschen. Es gab auch ganz anderweitig motivierte Expeditionen. Offenbar ideologisch und strategisch motiviert startete in den 30er Jahren eine Expedition unter Leitung des Biologen- und SS Offiziers Ernst Schäfer mit einem Team in das tibetische Hochplateau. Denn die Region wurde von einigen NS-Ideologen als Ursprungsgebiet der „arischen Rasse“ betrachtet. Inwieweit der Mythos vom Yeti selbst in den Rassenwahn Ideologie Heinrich Himmlers eingeflochten wurde und bei der Mission eine Rolle spielte, ist heute nicht mehr ganz klar zu sagen.
Ernst Schäfer schrieb Reinhold Messner jedenfalls 1992, dass er 1930 einen Yeti in einer Höhle erschossen habe – einen Tibetbären (Langenbach, Jürgen, 2017; Swancer, Brent, 2017; Loxton/Prothero, 2013: 84).
Der Yeti und die Kryptozoologie
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Yeti, eine vielschichtige lokale Sagengestalt aus der Himalaya-Region, mit Hilfe westlicher Bergsteiger und Entdecker zu einer internationalen Ikone avanciert. Es ist anzunehmen, dass die Mischung von Mythos und Realität, welche die Sagengestalt des Yeti praktisch schon „von Natur aus“ mit sich brachte, in ihrer Rezitation als „schrecklicher Schneemensch“ nun erst recht sämtliche Berichte aus der Region unter einem gemeinsamen Nenner für die westliche Wissenschaft in Form einer unentdeckten großen Tierart salonfähig machte. Brisanz erhielt jedoch das vermeintlich menschenähnliche Aussehen und Behagen des Yetis, von dem nicht nur die Sagen und Fußspuren Aufschluss geben, sondern das durch einige wenige Sichtungsberichte untermauert wird.
Menschenähnliche Wesen
Diese Beobachtungen scheinen der These vom Bären als Erklärung für den Yeti zu widersprechen. Zu nennen wäre hier zum Beispiel die Schilderungen des polnischen Leutnants Slawomir Rawicz. Er wurde Ende der dreißiger Jahre als angeblicher Spion verurteilt und in ein Gefangenenlager nach Sibirien deportiert wurde. Rawicz gelang das Unglaubliche. In einer tollkühnen Flucht konnte er 1941, gemeinsam mit Mithäftlingen aus dem Lager entkommen. Sie schlugen sich, die Wüste Gobi durchquerend und Tibet und dem Himalaya hinter sich lassend bis nach Indien durch. Seine Ergebnisse hat er in einem Buch veröffentlicht. (Rawicz, 1999)
Auf seiner Reise kam es zu einer äußerst interessanten Begegnung mit dem Yeti. 1942 kämpften er und seine Mitflüchtlinge sich durch den Himalaja, als sich Folgendes ereignete:
„Zwei schwarze Flecken im weißen Schnee„…
„Auf unserer gesamten Wanderung durch die Himalaja-Region hatten wir keine anderen Wesen als einen Mann, seine Hunde und Schafe gesehen. Unser Interesse wurde daher geweckt, als Kolemenos während des Abstiegs unsere Aufmerksamkeit auf zwei sich bewegende schwarze Flecken im weißen Schnee lenkte, etwa eine Viertelmeile unter uns. Wir dachten an Tiere und sofort auch an Essen, aber als wir uns zwecks Erkundung auf den Weg nach unten machten, hatten wir keine große Hoffnung, dass sie auf uns warten würden.“
(Rawicz, 1999: 300)
Doch weit gefehlt. Den Abenteurern gelingt es, sich den merkwürdigen Geschöpfen auf etwa 100 Meter zu nähern und diese von einer Anhöhe aus weiter zu beobachten:
… was die Abenteurer beobachtet haben, gibt es am 28.05. an der selben Stelle zu lesen.
Anmerkung der Redaktion:Der Text ist in einer Zusammenarbeit von Andrè Kramer und Peter Ehret entstanden. Aus technischen Gründen können wir immer nur einen der Autoren nennen, hier Peter, im nächsten Teil André. |