Als Redakteur ist man ständig auf der Suche nach Stories. „Was ist neu?“ – „Kann das spanned erzählt werden?“, „Hat es für die Lesenden einen Mehrwert?“ und in der Kryptozoologie auch immer die Frage: „Ist das glaubhaft?“ schwingen bei so einer Suche immer mit.
Neulich traf ich auf eine Meldung, die ich auf den ersten Blick ganz interessant fand: Im frühen 19. Jahrhundert soll ein Schwein in der Kanalisation von London gelebt haben – möglicherweise eine ganze Herde! Und nicht nur das, als glaubhaftere Variante des New Yorker Alligators waren sie natürlich groß, schwarz und (sorry) saugefährlich – und haben Menschen angegriffen. Mehrere Portale aus der Kryptozoologie, mit Verschwörungstheorien und auch einige Seiten zur Geschichte Londons griffen diese Meldung kritiklos auf.
Spätestens hier begann dann auch die Frage „Ist das glaubhaft?“ und der Realitätscheck setzte ein.
Die Londoner Kanalisation im 19. Jahrhundert
Während Wien bereits 1739 vollständig mit einem Kanalnetz zur Abwasserentsorgung erschlossen, aber in London entschied man sich erst über 100 Jahre später, 1858 zum Bau eines zentralen Abwassersystems. Der Grund hierfür waren nicht etwa Seuchen wie die Cholera, die in den 1850ern über 10.000 Opfer forderte. Der Grund war der „Große Gestank“ oder „the great stink“, der sogar das Parlament in seiner Arbeit behinderte. Zu dieser Zeit gab es in London einige wenige von einander unabhängige Abwasserkanäle, die alle in die Themse oder ihre Nebenflüsse entwässerten. Ein Großteil der Fäkalien landete in Sickergruben – oder im Straßengraben. Hinzu kam, dass etwa 30 Londoner Nebenflüsse der Themse verbaut und in den Untergrund verlegt wurden. Am bekanntesten von ihnen ist vermutlich der Tyburn, der auch den Buckingham Palace unterquert.
Leute in der Kanalisation
Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert stieg die Bevölkerung Londons stark an. Hatte die Stadt 1750 noch 675.000 Einwohner, waren es Anfang 1801 bereits 1,1 Millionen, 1851 schon 2,7 Millionen und 1901 mehr als 6,5 Millionen Einwohner. Der größte Teil davon lebte in Armut. Dies bedeutete für die meisten (ähnlich wie in Deutschland, beispielsweise in Berlin), mit der Familie und einem oder mehreren „Schlafgängern“ in einem Zimmer zu leben, das gleichzeitig die Küche war. Straßen waren kaum gepflastert und wenn fanden sich große Mengen Pferdemist dort. Soziale Sicherheit war nicht gegeben: man lebte von der Hand in den Mund, wer seinen Job verlor, verlor seine Wohnung – Ersparnisse gab es kaum. In diesem Chaos der euphemistisch „Arbeiterbezirke“ genannten Viertel hielten viele etwas besser gestellte Einwohner noch Vieh: Hühner, Ziegen und natürlich Schweine. Hunden kam als Rattenjäger und Kampfhunden eine besondere Bedeutung zu.
Henry Hayhew zum Ersten
Der Journalist Henry Mayhew (1812 – 1887) kannte sich in den Gängen der Kanalisation gut aus. Er dokumentierte in den 1840ern das Leben der Londoner Schlammwühler, Rattenfänger, Lebensmittelverkäufer und anderer Arbeiter – und die Kanäle spielten in vielen seiner Berichte eine Rolle. Mayhew schrieb, er könne einfach in die Rohre hineingehen, die zur Themse hin entwässern. So traf er die Tosher, die sich in Gruppen organisierten, um sich gegen die Ratten zu verteidigen. Sie banden sich Laternen an die Brust und fischten nach Geld, Nägeln oder Metallresten, die nach unten gelangt sind.
Doch wie glaubwürdig ist Mayhew? Laurence Ward, Leiter der Digitalen Services in den London Metropolitan Archives sagt hierzu: „Er wird regelmäßig zitiert, wenn es um London dieser Zeit geht. Ich denke, das passiert, weil es kaum Leute gab, die sich mit ähnlichen Problemen der Arbeiterklasse befassten.“ – „Die Leute, die nach einer menschlichen Note suchen, landen bei ihm.“
Mit dem „New Police Act“ verbot den Aufenthalt und die Suche nach Gegenständen in der Kanalisation. Die gerade 10 Jahre alte Metropolitan Police wird das weitgehend durchgesetzt haben, so dass ab 1840 nicht mehr von einer „Gesellschaft“ der Tosher gesprochen werden kann.
Schweine in der Kanalisation
Wer immer sich in London ein Schwein hielt, bekam Probleme, das Tier zu ernähren. Gras fressen Schweine nur im größten Notfall und auch mit Baumblättern kann man sie nicht dauerhaft ernähren, wie z.B. Kaninchen oder Ziegen. Aufgrund der ausgeprägten Armut wird sich auch das Aufkommen von Speiseresten in Grenzen gehalten haben – jedenfalls dort, wo man die Schweine hielt. Da liegt es nahe, die Tiere an die Themse zu treiben.
Einwurf: Hier gibt es einen kleinen Zirkelschluss: Die Ufer der Themse waren über viele Jahrhunderte mehr oder weniger offene, höchstens mit hölzernen Kais verbaute (Kies-)Strände. Erst mit Bau der zentralen Kanalisation und einem vor dem Ufer der Themse verlaufenen Abwasserkanal war es möglich, das heutige „Embarkment“ auf der gesamten Länge der Innenstadt zu errichten. Früher gab es wesentlich mehr offenes Ufer, an dem sich Speisereste, tote Fische und lebende Krebse sammelten: Die Londoner Schweineweide.
Von den Stränden war es kein weiter Weg in die Kanalisation. Wenn ein Schwein ausbrach und im Tunnel verschwand, war es schwerlich wieder zur Rückkehr zu bewegen. Viele Mündungen der privaten Sewer waren sicher auch vergittert, man wollte schließlich vermeiden, dass sich ein Einbrecher den Weg durch eine Toilette ins Haus bahnte. So ist es durchaus möglich, dass in den privaten Sewern und später in der öffentlichen Kanalisation Schweine überleben konnten.
Große, schwarze, menschenfressende Schweine
Hausschweine sind rosa – zumindest heute. Eine gezielte Schweinezucht entstand um 1770 in England, aber viele Schweine des frühen 19. Jahrhunderts ähnelten den Wildschweinen sehr. Wie kommt das?
Trotz einer gewissen Domestikation kam es bei der Eichelmast im Wald immer wieder zu „Kontakten“ mit Wildschweinen und entsprechendem Genfluss, der viele züchterische Bemühungen zunichte machte. Das typische Schwein der viktorianischen Zeit war langbeinig und schlank mit gestrecktem Kopf. Es hatte einen deutlichen Borstenkamm und einen Widerrist auf etwa 80 cm Höhe, war dicht und dunkel behaart. Da man erst ab den 1750er Jahren auf die Idee der gezielten Zucht durch Auswahl von Elterntieren mit gewünschten Eigenschaften kam, werden sich die Schweine der armen Bevölkerung auch 1850 noch deutlich von den Zuchtschweinen besser organisierter Landwirte unterschieden haben. Vermutlich wirkten sie wie kleine Razorbacks – Hausschwein-Wildschwein-Hybriden, die man aus dem Südosten der USA kennt. Allerdings waren sie kleiner. Die wenige und qualitativ schlechte Nahrung, die man ihnen geben konnte, bevorzugte kleinere Tiere, die sich dann erfolgreicher fortpflanzten.
Henry Mayhew zum Zweiten
Mayhew war weder der erste, noch der letzte, der von Untergrundschweinen in London berichtete. Die erste Version stammt von 1736, als ein Eber einem Metzger entfloh und fünf Monate später beim Fleet Ditch (in der heutigen Fleet Street) wieder auftauchte.
Mayhew selber schreibt zu der Sache: „Ist es nicht seltsam, dass die Bewohner nie den kleinsten Hinweis auf ein Schwein hinter den Gittern bekommen? Dass sie nie ein Grunzen unter ihren Füßen hören?“ Dennoch, so schreibt er auch: „Einige Leute glauben an die Geschichte, so seltsam sie auch scheint.“
Der Daily Telegraph berichtet etwas sehr ähnliches im Oktober 1859: „Die Abwasserkanäle von Hampstead beherbergen eine Zucht gewaltiger schwarzer Schweine, von denen gesagt wird, sie laufen frei im schleimigen Abwasser herum.“ Hierbei ist jedoch unklar, ob der Redakteur des Telegraph nur Mayhew wiederholt oder die Story selbst gehört hat.
„Es gab so viele unterschiedliche Tiere in der Stadt und alle können in die Gräben und Kanäle flüchten … es erscheint plausibel, von dieser Seite betrachtet.“, beurteilt Ward die Sache. „Ob sie sich vermehrt haben und eine eigene Rasse von Kanalschweinen entstand, steht auf einem anderen Blatt!“
Literatur
Leigh-Hester, Jessica: Londoners Once Wondered If Feral Hogs Roamed Victorian-Era Sewers; atlasobscura.com, 3.10.2019