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Gestern am 17. November 2024 wurde in der IBIS, International Journal of avian Science ein Paper veröffentlicht, das das Aussterben des Dünnschnabel-Brachvogels (Numenius tenuirostris) thematisiert.

 

Dünnschnabel-Brachvogel – nie gehört?

Erscheinungsbild

Der Dünnschnabel-Brachvogel ist bzw. war einer der faszinierendsten, weil geheimnisvollsten Vögel Europas. Er war mehr oder weniger eng mit den anderen Brachvögeln verwandt, etwa so groß, wie ein Regenbrachvogel, jedoch schlanker. Sein Gefieder ähnelte eher einem sehr hellen Großen Brachvogel, der Schnabel war aber fast komplett schwarz und noch schlanker als bei den anderen europäischen Brachvogel-Arten.

 

Dünnschnabel-Brachvogel
Dünnschnabel-Brachvogel, Illustration von Henrik Grønvold, 1902

 

Vorkommen

Die wichtigsten Brutgebiete der Art lagen in Westsibirien, soweit ist halbwegs sicher. Wo genau sie langen, ist weniger sicher, die einzige sicher bekannte Brutkolonie wurde zwischen 1909 und 1924 in der Region Tara, 250 km nördlich von Omsk beobachtet. Bis zuletzt galten die Permafrost-Moore an den Flüssen Irtysch und Ob als heiße Kandidaten, im Gespräch sind aber auch die Steppengebiete in Südsibirien und Kasachstan. Überwintert haben sie vor allem am westlichen Mittelmeer, in den Küstenregionen von Marokko bis Mitteltunesien. Weniger häufig waren sie im  Nildelta, dem Euphrat-Delta in Kuwait und dem Irak und im Jemen. Ziemlich regelmäßig wurden Irrgäste in Mittel- und Westeuropa nachgewiesen. Viele Nachweise erfolgten auch aus Ländern, die sie bei der Wanderung durchquerten.

Im Nordosten Griechenlands, nahe der türkischen Grenze im oder in der Nähe des Nestos-Deltas gab es ebenfalls eine Population des Dünnschnabel-Brachvogels. Diese gilt als erloschen, aber die letzten Beobachtungen könnten mit ihr zusammenhängen. Ob die Tiere aus dieser Region wanderten, ist unbekannt.

 

Verbreitung des Dünnschnabel-Brachvogels (Numenius tenuirostris)

 

Lebensweise

Wie alle Brachvögel bewohnte der Dünnschnabel-Brachvogel Feuchtgebiete, vor allem Torfmoore. Außerhalb der Brutzeit fand man sie auch auf Wattflächen, Salzmarschen und Feuchtgebieten des Süßwassers. Er fraß alle vorkommenden Kleintiere, vermutlich suchte er in weicherem Substrat als andere Brachvögel.

Die wenige bekannten Nester waren flache Bodennester, meist in Torfmooren. Sie enthielten vier grauolive bis braune Eier mit dunklen Flecken.

Dünnschnabel-Brachvogel
Das Titelbild, noch einmal farbig. Illustration von Elizabeth Gould & Edward Lear, ca. 1830.

 

Das Aussterben

Wie so häufig ist das Aussterben einer Art ein multifaktorielles Geschehen. Insbesondere bei einer Art, über die so wenig bekannt ist, wie über den Dünnschnabel-Brachvogel bleibt leider sehr viel Raum für Spekulation.

Brutgebiete

Auch in Sibirien hat es seit dem 19. Jahrhundert großflächige Umformung von Wildnis in Ackerland gegeben. Sicher ist der großflächige Verlust von Feuchtgebieten durch künstliche Entwässerung – Gebiete, in denen der Dünnschnabel-Brachvogel gebrütet haben könnte.

Auch die Verbreitungsgebiete in Griechenland sind heute massiv überformt und werden weitgehend landwirtschaftlich, aber auch touristisch genutzt. Nur im äußeren Delta des Nestos ist ein kleiner Bereich in Form eines Nationalparkes seit Kurzem geschützt.

Wanderung und Überwinterungsgebiete

Viele Lebensräume für nicht-brütende Tiere bestanden aus Küstenwiesen, die heute im Mittelmeerraum ein extrem seltener Lebensraum sind. Nahezu überall dort, wo sich die Tiere außerhalb ihrer Brutzeit aufhielten, wurden Feuchtgebiete systematisch trocken gelegt, und für landwirtschaftliche oder touristische Nutzung umgeformt. Dennoch sollte es in Sibirien zumindest theoretisch ausreichend als Brutgebiete geeignete Lebensräume geben.

In nahezu allen Durchzugs- und Überwinterungsgebieten wurde der Dünnschnabel-Brachvogel gezielt bejagt. Er erschien zahmer bzw. seine Fluchtdistanz war oft geringer als die anderer Watvögel, und er suchte auch bei hohen Wasserständen nach Nahrung, so dass er leicht bejagt werden konnte.

Die Kombination aus Habitatverlust und Jagd könnte sich besonders negativ ausgewirkt haben, da viele Vögel auf immer kleinere Überwinterungsgebiete konzentriert wurden und so für Jäger besonders attraktiv wurden. Diese Konzentration führte natürlich auch zu stärkerer inner- und außerartlicher Konkurrenz und potenziell größerer Gefahr der Krankheitsübertragung. Wie sich Umweltverschmutzung und Klimawandel auf die Art auswirkten, ist unklar. Die sinkende Populationszahl könnte die Fitness des Einzelnen zudem negativ beeinflusst haben (Allee-Effekt), die Suche nach Brutpartnern erschwert und eine Räubersättigung der Brutkolonien schließlich verhindert haben.

 

Dünnschnabel-Brachvogel im Naturalis, Leiden, NL
Was von einer Spezies bleibt: Ein Museumsexemplar eines jungen Weibchens von Numenius tenuirostris, gesammelt am 27.12.1889 in Friesland. Heute Teil der Sammlung des Naturalis, Leiden, NL. Huub Veldhuijzen van Zanten/Naturalis Biodiversity Center; CC 3.0

 

Die letzten Dünnschnabel-Brachvögel

Das letzte glaubhaft dokumentierte Nest fand man 1924 bei Tara in Sibirien (57°N, 74°O). Intensive Nachsuche in der Umgebung brachte keinen Erfolg, kein Wunder, wenn man die „Umgebung“ mit mehreren 100.000 Quadratkilometern unwegsamen Geländes definiert. Etwa zu dieser Zeit verschwanden auch die meisten Wintergäste in Marokko. Seit den 1980er Jahren überwinterten die Tiere nur noch an einem einzigen Ort in Marokko, 1986 wurden dort fünf Tiere beobachtet, 1988 nur noch vier, 1989 bis 1992 jährlich nur noch drei, 1993 und 1994 nur noch zwei, die letzte Beobachtung eines Einzeltieres stammt von 1995.

Man vermutet, dass Mitte der 1990er Jahre noch 50 bis 270 Individuen existierten. Die meisten Beobachtungen stammen aus Ungarn, wo Dünnschnabel-Brachvögel zwischen 1990 und 1999 insgesamt sieben Mal beobachtet wurden. 1995 wurde eine Gruppe von 20 Tieren in Italien beobachtet, jedoch ist die Bestimmung nicht sicher.

In England?

Im Mai 1998 kam es zu einer Aufsehen erregenden Beobachtung in England: Bei den Druridge Pools tauchte ein Jungvogel des vergangenen Jahres auf und wurde fotografiert. Falls die Bestimmung richtig war, belegt dies eine erfolgreiche Brut in 1997. Die Beobachtung haben offizielle Stellen 2002 bestätigt. Leider wurde die Bestimmung 2013 widerrufen, die Debatte, um welche Art es sich bei dem „Druridge Bay curlew“ (Druridge-Bucht-Brachvogel) handelt, geht jedoch bis heute weiter.
Zwei weitere unsichere Beobachtungen des Dünnschnabel-Brachvogels stammen von August 2002 ebenfalls aus der Druridge Bay und Oktober 2004 aus Minsmere in Suffolk, England.

 

2003 gab es eine unsichere Sichtung von vier, später sogar sechs Vögeln im Donau-Delta. Weitere Beobachtungen gibt es aus dem Jahr 2003 und 2004 in der Ukraine, eine als sicher geltende Beobachtung von März 2005 stammt aus Montenegro.

Ein einzelner Vogel wurde 2006 in Albanien beobachtet. Diese Beobachtung scheint relativ sicher, da sie mehrere Wissenschaftler von EuroNatur getätigt haben.

Die griechische Population?

Beobachtungen in Ungarn, Italien, dem Donau-Delta, Montenegro und Albanien deuten für den Autor nicht zwingend auf zwischen Marokko und Sibirien wandernde Tiere hin. Ohne genauere Orts- und Zeitangaben lässt sich jedoch auch keine (halbwegs) sichere Verbindung zu den beiden ehemaligen Brut- und Überwinterungsgebieten im Norden Griechenlands ziehen.

 

 

 

Offiziell ist der Dünnschnabel-Brachvogel (Numenius tenuirostris) damit ausgestorben. 

 

Diese Meldung ist sehr bedeutend, denn es handelt sich beim Dünnschnabel-Brachvogel nicht um eine von sich aus schon seltene Inselart oder einen Spezialisten, sondern um eine Art, die vor 150 Jahren noch in großer Zahl in Europa und am Mittelmeer vorkam. Das menschengemachte Massensterben kommt uns immer näher.

 


Quellen

Deutsche Wikipedia zum Dünnschnabel-Brachvogel

Englische Wikipedia zum Dünnschnabel-Brachvogel (Slender-billed curlew)

Englische Wikipedia zu den Druridge Bay curlews

IBIS: Global extinction of Slender-billed Curlew (Numenius tenuirostris)

Von Tobias Möser

Tobias Möser hat Biologie, Geologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schon als Kind war er vor allem an großen Tieren, Dinosauriern, später Walen interessiert. Mit der Kryptozoologie kam er erst 2003 in näheren Kontakt. Seit dieser Zeit hat er sich vor allem mit den Wasserbewohnern und dem nordamerikanischen Sasquatch befasst. Sein heutiger Schwerpunkt ist neben der Entstehung und Tradierung von Legenden immer noch die Entdeckung „neuer“, unbekannter Arten. 2019 hat er diese Website aufgebaut und leitet seit dem die Redaktion.