– die wahre Geschichte des letzten britischen Wolfs … und ihre unwahren Varianten
“And long on Wraysholme´s lattice light
A wolf´s head might be traced,
In honour of the red cross knight,
Who bore it for his crest”
aus “The Last Wolf”, Unbekannter Autor, zitiert von Edwin Waugh, 1861
Der Cartmel Wolf
Das Cartmel-Kloster und der Wolf
Cartmel-Priory ist ein ansehnliches Kloster aus dem 12. Jahrhundert. Es steht in der Grafschaft Cumbria im Nordwesten Englands, unweit des Lake District National Parks. Seinen höchsten Turm schmückt eine goldene Wetterfahne in der Form eines Wolfskopfes. Dieser Wolfskopf verweist auf ein Ereignis, das sich einer lokalen Legende nach unweit des Klosters zugetragen haben soll. Hier, so heißt es, lebte und starb Englands letzter Wolf.
Nicht dem Wolf zu Ehren…
Doch der Wolfskopf wurde weniger zu Ehren des Tieres, als denen seines menschlichen Bezwingers errichtet. Sir Edgar Harrington, “hatte geschworen, den letzten Wolf in Englands großem Gebiet zur Strecke zu bringen” (Waugh, 1861). Ein Letzter geistere in den waldigen Höhen von Humphrey Head umher und mache die Viehherden von Wraysholme unsicher. So wichtig war dieser Wolf dem Sir Edgar Harrington, das er ihm zu Unehren ein großes Bankett veranstaltete und dem erfolgreichen Jäger die Hälfte seiner Ländereien – und die Hand seiner schönen Nichte Adela versprach.
Mittelalterliche Ritter“ehre“: Erst die Sarazenen, dann der Wolf
Was für ein glücklicher Zufall, dass gerade zum richtigen Zeitpunkt John Edgar Harrington, der Sohn des Grundbesitzers, an den Hof zurückgekehrt war. An ihn (und nur an ihn) hatte Adela ihr Herz verloren. Wegen der verbotenen Liebe war der Sohn aber vor der Wut des Vaters schon lange geflohen und wurde seitdem für tot geglaubt. Doch da erschien er nun auf dem Fest, incognito – kondekoriert als Sir John Delisle – nach einer erfolgreichen Schlacht gegen die “dunkelhäutigen” Sarazenen im fernen Orient. Entschlossen für seine nächste Schlacht: den Kopf des Wolfes um das Herz seiner Liebsten willen zu ergattern. (Waugh, 1861)
Spektakuläre Treibjagd auf Englands letzten Wolf
Ein großes Jagdspektakel wird anberaumt, mit vielen Teilnehmern, Hunden. Am vorabendlichen Jagdfest im Wraysholme Tower treffen Harringtons Gefolgsmänner und adelige Gäste zusammen. Dort muss sich der junge John Edgar eines Konkurrenten um die Hand der begehrten Adela gewahr werden. Auch er darauf erpicht, Englands letzten Wolf zu erlegen und seinen Mut der schönen Adela zu beweisen. Am nächsten Tag wird in das Horn geblasen. Die Jäger brechen zu des Wolfes Versteck bei Humphrey Head auf. Die Hatz nach Englands letztem Wolf avanciert zu einem atemberaubenden Spektakel. Dem aufgescheuchten “grauen Beast” gelingt es vorerst, seine Jäger abzuschütteln. Es sucht kurz Zuflucht in den Felsvorsprüngen des Berges. Aber die entschlossenen Hunde geben nicht auf. Ein Sprung ins Wasser unterbricht die Geruchsspur. Glück gehabt? War es das?
Showdown am Humphrey Head
Nur zwei Hunde, und natürlich Sir John und sein Rivale sind ihm danach noch auf den Fersen. Dicht an dicht hetzen sie dem Wolf am Seeufer hinterer. Dem Untergang geweiht rennt das Tier, in aller Verzweiflung, wieder gen Humphrey Head, seinem alten Zufluchtsort, das steile Felsgelände hinauf. Die Jagd verlagert sich in gefährliches, felsiges Terrain. Ein tiefer Abgrund tut sich vor den Jägern auf – das Pferd von Sir Johns Rivalen schreckt verängstigt zurück. Doch Sir John spornt wild entschlossen seinen Araber an – und der rauscht den felsigen Abhang hinab ins Verderben. “das Geröll löst sich […], die Haselzweige brechen unter seiner Kraft”
(Waugh, 1861)
Adela und der Wolf
Die umkämpfte Adela muss dieses grausam-tödliche Spektakel von ihrem Zelter aus auf der anderen Seite des Abgrunds entsetzt mit ansehen. Und dann taucht der Wolf plötzlich bei ihr in Sichtweite auf…”und fletscht seine glitzernden Zähne”. In Todesangst schließt die Erschrockene die Augen. Sie riskiert ein kurzes Blinzeln…und da erblickt sie das tote Pferd und den toten Wolf … doch siehe da: vor ihr steht furchtlos und unversehrt der siegreiche Sir John, wie er seinen Speer aus dem Körper der erlegten “Bestie” zieht:
”Oh schöne Adela, erblicke hier die wahre Liebe”. (Waugh, 1861)
Der verlorene Sohn kehrt zurück
Die Jagd ist vorbei. Sein Vater erkennt in Sir John schließlich seinen verloren geglaubten Sohn wieder, heißt diesen freudig willkommen und kann ihm endlich vergeben. Und nun gewährt er ihm auch die lang ersehnte Herzensdame zur Frau. (Waugh, 1861)
Das frisch vermählte Paar Harrington macht den Wolf zum Tier seines Familienwappens. Zusammen sind die Beiden im Cartmel-Kloster begraben – mit einem Wolf zu ihren Füssen – eingemeißelt in Stein in einer Nische des Klosters (lornasmithers.wordpress.com).
Cartmels letzter Wolf – ein altes Erzählmotiv
Das ist eine Version der Geschichte von Englands letztem Wolf. Wir kennen sie durch Edwin Waugh, so wie er sie in seinem 1861 erschienenen “Rambles in the lake country and its boarders” wiedergab. Sie geht auf einem unbekannten Autoren zurück, der die Legende vom “Last Wolf” in Versform im Ulverstone Advertiser veröffentlicht hatte (Waugh, 1861). Im Umlauf ist der Erzählstoff der Legende wohl seit dem 14. Jahrhundert. Doch vor allem aus dem 19. Jahrhundert gibt es viele verschiedene gedruckte Varianten dieser Erzählung (So zum Beispiel: The Remains of John Briggs, 1825, sowie: James Stockdale, Annals of Cartmel, 1871). Die Legende thematisiert eine vermeintliche Restpopulation von Wölfen in Englands hügeligen Wäldern- und Hochmooren in einer Zeit, in der die Tiere in Englands Süden schon längst verschwunden waren, sich aber bei Cartmels Umgebung offenbar noch länger halten konnten (lornasmithers.wordpress.com).
Der Cartmel-Wolf: Legende und Wirklichkeit
Es ist natürlich schwer, Legende und Wirklichkeit auseinander zu halten. Der Cartmel-Wolf ist biologisch nicht belegt. Auch die erwähnten Persönlichkeiten und die Grabstätten entsprechen nicht ganz ihrem realen Abbild. Zwar lebte der Poetin Lorna Smithers zufolge ein gewisser John Harrington tatsächlich. Allerdings als Sohn von Robert de Haverington (und nicht als Sohn eines Sir Edgar Harrington). Er wurde 1281 in Farleton geboren und 1306 zum Ritter geschlagen. Seine Frau war Joan von der Dacre-Familie und nicht die Adela der Legende. (lornasmithers.wordpress.com)
Wölfe am Grabmal?
Auch ist schwer zu sagen, ob die Tier-Kreaturen ihrer Grabmäler im Cartmel-Kloster einen Wolf darstellen – in der Betrachtung von Lorna Smithers ist das Gesicht des Wesens an Johns Grab halb Mensch, halb Wolf. Außerdem habe es einen Schlangenschwanz. Und bei der Skulptur an Joana´s Grabstein braucht man wohl noch mehr Fantasie, um daraus eine wölfische Natur zu machen – die Gestalt erinnere vielmehr an eine Mischung aus einem Löwen und einer Meerjungfrau. (lornasmithers.wordpress.com)
Der Held der Geschichte und der Wraysholme-Tower
Auch die Erbauung des Wraysholme-Towers, die die Legende besagtem John Harrington zuschreibt, kann nicht auf dessen reale historische Persönlichkeit zurückgehen. Der Tower wurde viel später, im 15. Jahrhundert, von dessen Nachfahren errichtet. Lorna Smithers hält es daher für möglich, dass besagter John Harrington durchaus an der Jagd auf Cartmels letzte Wölfe am Anfang des 14. Jahrhunderts beteiligt gewesen sein könnte. Möglich, dass seine Nachfahren mittels der Legende ein romantisiertes, verzerrtes Bild der historischen Persönlichkeit ihres Vorfahren gezeichnet haben, um so ihre Herrschaft in der Region zu rechtfertigen (lornasmithers.wordpress.com).
Doch kann damit nicht beantwortet werden, ob das Erzählmotiv von Englands letztem Wolf aus Cartmel auf einen wahren Kern zurückgeht.
Jerome Mercier: „Ausrottung des Wolfs ist göttliche Mission“ im Namen der Christenheit“
Die Romantik, die die englische Poesie mit der Jagd auf Englands letzten Wolf verbindet, wurde jedoch durchaus verwendet, um politische (oder gar kulturelle) Hoheitsansprüche geltend zu machen. Die viktorianische “Lady” Mrs. Jerome Mercier griff die Geschichte vom Cartmel-Wolf Anfang des 20. Jahrhunderts (The Last Wolf, 1906) erneut auf, um an der Tötung des letzten Wolfs den Wandel von einem “wilden” zu einem “zivilisierten” England zu veranschaulichen. Die zivilisierte Christenheit beendete damit die heidnische Barbarei (Sky & McPhie, 2015: 229). John Harrington, für tot geglaubt, kehrt von den Kreuzzügen zurück (eine Koinzidenz mit der historischen Persönlichkeit Harringtons unmöglich!) und tötet den Wolf. Und damit sind
“mit Gottes Willen in seiner guten Zeit all die alten, rauhen, grausamen Tage vorbei – so wie das Geschlecht der Wölfe – deren Letzter von einem vornehmen christlichen Ritter erlegt wurde. So waren Ignoranz und Grausamkeit vergangener Zeiten besiegt durch Milde und Christenheit, und schon bald kam die Morgendämmerung eines neuen Tages…”
(Jerome Mercier zitiert nach: lornasmithers.wordpress.com, Übersetzung von Peter Ehret)
Wolf und Mensch in Großbritannien: Geschichte einer schwierigen Beziehung
Das Verhältnis von Wolf und Mensch stand in Großbritannien schon lange nicht mehr auf guten Beinen. Vor allem in der Hochzeit der christlichen Ära wurden die Tiere als Personifikationen des Bösen gesehen, die heilige Erde entweihten und Seelen verschlangen. Es half ihnen dabei nicht, dass sie die Nähe von Schlachtfeldern suchten und sich an den Körpern der Gefallenen bedienten. Sogar die Leichen beerdigter Personen haben sie zuweilen wieder ausgebuddelt. In Schottland ging man sogar so weit, die Toten auf der Insel Handa zu bestatten, um einer “Grabschändung” durch Wölfe zuvorzukommen. Laut dem ehemaligen schottischen Parlamentsmitglied Janice Short könnte also nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Wölfe sogar zeitweilig an das menschliche Fleisch gewöhnten. Allerdings, so insistierte die schottische Wolf-Mensch-Beauftragte Short, hatte man die Wölfe zuvor schon längst aus ihrem Lebensraum gedrängt.
Aus dem Habitat verdrängt
Der Grund des Konflikts mit den Menschen war die Zerstörung ihres Lebensraums (Janice Short). Wie die Ortsnamen in England zeigen, waren dort offenbar schon zur Zeit der normannischen Eroberung Wolfsrudel vernichtet oder aus ihrem Lebensraum verdrängt worden (Pluskowski, 2006: 290). Neben dem Vordringen der Menschen in das Habitat nennt Janice Short den Rückgang der natürlichen Beute als eine der Hauptursachen, welche die deplatzierten Wölfe so sehr in menschliche Nähe brachten. Die Friedhöfe und Schlachtfelder boten den Raubtieren eine willkommene alternative Nahrungsquelle (Janice Short).
Das mittelalterliche England: „ein frühreifer“ Staat
England entwickelte sich selbst für europäische Verhältnisse relativ früh zu einem modernen Staat. Schon im 11. Jahrhundert (!) machten sich im mittelalterlichen England zentralisierende Tendenzen des königlichen Hofes bemerkbar. Das merkt man vor allem am Aufbau eines bürokratischen Apparates, der das Geschehen auf der Insel dokumentierte und zunehmend auch beeinflusste. Das zeigt zum Beispiel die königliche Kontrolle der wilden Huftier-Populationen (Pluskowski, 2006: 288). Tatsächlich ist England auch das einzige europäische Land, aus dem für das mittelalterliche Europa die Verfolgung der wilden Wölfe eindeutig dokumentiert ist. (Pluskowski, 2006: 286). Die Wolfsjagd war dabei schon Angelegenheit spezialisierter Jäger. Daneben gab es jedoch auch Bezahlungen gegen die Vorlegung toter Wölfe (Pluskowski, 2006: 290).
Wolfsjagd hat in England lange Tradition
Damit setzte sich ein Trend fort, der in Großbritannien offenbar schon eine lange Tradition hatte. Laut dem schottischen Historiker Hector Boece erklärte ein gewisser König Dorvadilla bereits im 2 Jahrhundert v. Chr. im heutigen Schottland, dass er seinen Untertanen für jeden getöteten Wolf einen Ochsen schenkte (Janice Short). Englands Herrscher im Hochmittelalter, Edward I. (1239 – 1307) und sein Sohn Edward II. (1284 – 1327) ordneten die völlige Vernichtung der Wolfspopulationen ihrer Gebiete an (lornasmithers.wordpress.com). Daher weiß man auch, dass die Wolfsjagd in England noch im 12. – und 13. Jahrhundert praktiziert wurde (Pluskowski, 2006: 290). Ein eiserner Wolfskopf an dem Eichenholz-Eingang der Kirche bei Abbey Dore in der Nähe von Hereford soll angeblich an die Kampagne von Edward I. und seinem tödlichen Vollstrecker, Peter Corbet, erinnern (Winder, 2017: 33). Die Kampagnen waren relativ erfolgreich.
Die letzten Hinweise der englischen Wölfe
Der letzten direkte Hinweis stammt aus einem Bericht aus dem Jahre 1290 – ein Wolf soll in einem Park (Ort unbekannt) ein paar Hirsche gerissen haben (Ivy Stanmore). 1295 wurden in Lancashire ein halbes Dutzend Kälber geschlagen (Winder, 2017: 8).
Der letzte zuverlässige Beweis von Wolfshäuten datiert auf das 14. Jahrhundert (Pluskowski, 2006: 288). Die Mönche von Whitby hätten, so heißt es hier in einer Referenz aus den Jahren 1394 – 96, für die Gerbung von 14 Wolfshäuten 10 Shilling und 9 Pence bezahlt. Daher spekuliert man, dass es im Nordosten von Yorkshire noch bis zum späten 14. Jahrhundert Wölfe gegeben haben könnte (Ivy Stanmore). Doch selbst in Englands wilden Norden bestanden die wenigen Wolfshinweise am Ende des 13. Jahrhunderts lediglich noch aus „flüchtigen Begegnungen – ein leuchtendes Auge hier, ein Schatten dort und sogar eine späte Sichtung an der Bucht von Cumbria in der Tudor-Epoche (1485 – 1603)“.
Diese undokumentierten Sichtungen hätten, so konstatiert Robert Winder nicht ganz frei von Ironie, „die schimmernde Qualität der Loch Ness Legende oder dem Beast of Bodmin“ (Winder, 2017: 8). Man geht also heute also davon aus, dass die Wölfe in England allerspätestens Ende des 14. Jahrhunderts ausgestorben sind (Pluskowski, 2006: 286).
Dieser Artikel erschien zunächst am 29.06.2021, jetzt erneut wegen des Relaunches publiziert.