Orang Pendek?
Lesedauer: etwa 11 Minuten

Nicht umsonst hat Arthur Conan Doyle seinen Roman „The Lost World“ in einem tropischen Regenwald angesiedelt. Egal, ob nun – wie im Roman – in Südamerika, in Afrika oder in Asien: Von der Tiefsee abgesehen, gibt es wohl kaum einen Ort, der sonst noch derart unerforscht ist. Eine Unzahl von Tierarten lebt dort, trotzdem durch das Pflanzendickicht kaum ein Tier zu sehen ist. Was sich hier alles verborgen halten könnte, beflügelt die Fantasie ungemein.

 

Bei Doyle sind es urzeitliche Tiere, die sich bis zu ihrer Entdeckung durch die Protagonisten des Romans auf einem Hochplateau erfolgreich vor den Augen der Menschen verborgen gehalten hatten. In seiner verlorenen Welt tummeln sich Dinosaurier, prähistorische Säugetiere und auch eine Art Affenmensch. Kurzum: Ein solches Gebiet zu entdecken, wäre wohl der Traum eines jeden Kryptozoologen. Wer wäre nicht gerne Professor Challenger? Zur Kryptozoologie passend wäre übrigens auch der Ausgang der Geschichte. Der soll aber an dieser Stelle nicht verraten werden, um ein etwaiges Lesevergnügen nicht zu gefährden.

 

Es ist natürlich unnötig zu erwähnen, dass die Hoffnung auf eine solche Arche Noah von prähistorischen Lebensformen reichlich unrealistisch ist. Daher soll dieser Artikel wieder einmal nur von einem einzigen Kryptid handeln: einem Affenmenschen – aus einem Regenwald. Ausnahmsweise sollen dieses Mal nicht Bigfoot oder Yeti die Protagonisten sein, sondern der Orang Pendek. Dem kryptozoologisch interessierten Leser sagt wahrscheinlich zumindest der Name dieses Kryptids etwas. Im Mainstream ist dieser Hominid aus Sumatra allerdings noch nicht ganz so bekannt, was gewisse Vorteile hat. Beispielsweise gibt es weit weniger sensationalistisch aufgemachte Berichte über ihn.

 

Sumatra
Ist Sumatra (rot) eine einsame, weit entfernte Insel, wenn dort über 50 Millionen Menschen leben?

 

Wie sieht ein Orang Pendek aus?

Was das Aussehen des Orang Pendek betrifft, herrscht weitgehend Einigkeit.

Der kleine, haarige Bodybuilder

So wird er immer als relativ klein beschrieben. Die Größenangaben schwanken zwar zwischen winzigen 90 cm und 150 cm, doch das ist erklärbar: So werden etwa bei allen Menschenaffenarten die Männchen im Durchschnitt etwas größer, als die Weibchen. Wer schon einmal beobachtet hat, wie klein und zierlich ein Orang-Utan- oder Gorilla-Weibchen im Vergleich zum jeweiligen Männchen wirkt, kann das bestätigen. Auch hatte keiner der Zeugen die Gelegenheit, das Kryptid zu vermessen, sodass nur grobe Schätzungen vorliegen. Solche Angaben nach Augenmaß fallen erfahrungsgemäß sehr unterschiedlich aus (vgl.: Das geheimnisvolle Tier vom Kaltenbronn).

 

Obwohl der Orang Pendek als klein beschrieben wird, ist er keineswegs schwächlich gebaut. Brust und Arme sollen den Einheimischen zufolge überaus kräftig sein. Selbst kleinere Bäume könne dieses Wesen entwurzeln. Fast schon drängt sich der Eindruck auf, dass der Orang Pendek ein sehr kleiner Bodybuilder sei, der seine Anabolika mit einem Haarwuchsmittel verwechselt hat…

Auch wenn er kräftig gebaut ist, hat der Orang Pendek wohl eher keinen Athleten-Körper. Laut der Kryptozoologin Debbie Martyr sind sich die Augenzeugen nämlich einig, dass sein Bauch stark hervorsteht.

 

Nasenaffe
Blattfressende Affen sind häufig muskulös, haben aber einen Trommelbauch (hier: Nasenaffe aus Borneo)

 

Ein allzu menschlicher Affe

Wie es bei Hominiden üblich ist, soll der Orang Pendek angeblich aufrecht gehen. Seine Füße ähneln denen eines menschlichen Kindes – sowohl, was die Form, als auch was die Größe betrifft. Der große Zeh ist jedoch stärker abgespreizt und ähnelt daher eher einem Finger, wie es bei Affen der Fall ist. Dieses anatomische Merkmal wäre zweifellos beim Klettern sehr praktisch. Wenn man davon ausgeht, dass die Zeugen den Orang Pendek tatsächlich akkurat beschreiben, kann man durch den aufrechten Gang noch einen weiteren Rückschluss auf seine Anatomie ziehen: Seine Wirbelsäule müsste – wie beim Menschen – S-förmig sein. Anderweitig wäre eine dauerhaft aufrechte Körperhaltung für ihn äußerst unangenehm. Hier sieht man bereits eine seltsame Mischung aus Merkmalen von (nicht-menschlichen) Affen und Menschen.

 

Was sein Gesicht betrifft, sind die Zeugen nicht einer Meinung. In den Erzählungen der Einheimischen hat er auf dem Kopf und auf Höhe der Augenbrauen einen „Kamm“. Laut einer Recherche von Ernst Probst werden diese mit den „Kämmen“ eines Gorillas verglichen. Nun ist ein Gorilla aber keine Chimäre aus Huhn und Affe. Daher steht zu vermuten, dass die genannten „Kämme“ auf seine Schädelform anspielen sollen: Der Kopf wäre demnach eher eiförmig, während die Augenbrauen – durch die Schädelstruktur bedingt – stark hervortreten. Dann wäre der Vergleich speziell mit einem männlichen Gorilla durchaus angemessen. Andere Zeugen erwähnen diese auffällige Schädelform wiederum nicht. Entweder ist also eine von beiden Beschreibungen nicht korrekt, oder aber es liegt ein Geschlechtsdimorphismus vor.

 

Schopfaffe
Wie eine Fönfrisur aus den 80ern: Manche Affen haben einen Schopf. Bei dieser Art ist er so auffällig, dass er ihr den Namen gab: Schopfaffe. (Foto: Henrik Ishihara, CC 3.0)

 

Anders als Menschen (genauer: Homo sapiens, denn wie die übrigen Arten genau aussahen, ist unbekannt), ist der Orang Pendek laut ausnahmslos allen Zeugen behaart. Seine Haare sind allerdings weit kürzer, als bei den anderen großen Affenarten der Insel, namentlich beim Orang-Utan und beim Gibbon. Das Gesicht wird dagegen als unbehaart oder zumindest sehr schwach behaart beschrieben. Lediglich, was die Fellfarbe betrifft, machen die Zeugen unterschiedliche Angaben: mal ist es hellbraun, dann rötlich und schließlich auch dunkelbraun bis schwarz. Derart unterschiedliche Fell- und Haarfarben kommen üblicherweise eher bei domestizierten Tierarten vor – oder eben auch beim modernen Menschen.


700 Jahre Orang Pendek-Sichtungen: Eine Sammlung von Augenzeugenberichten

Dass Orang Pendeks gesichtet werden, ist kein Phänomen aus jüngerer Zeit. Nachfolgend sollen daher einige Sichtungsberichte kurz und chronologisch aufgelistet werden. Man sollte dabei allerdings beachten, dass diese Berichte allesamt von Europäern aufgezeichnet wurden. So sind größere Zeitsprünge nicht verwunderlich, da die Einheimischen derartige Berichte eher mündlich weitergeben.

Marco Polos Orang Pendek mit Schweif (1292)

Marco Polo auf Reisen
Marco Polo kommt in einer Stadt am Rande der Lop Mor-Wüste an. Originalbild aus der Erstveröffentlichung 1271

 

Bereits Marco Polo berichtete auf seiner Sumatra-Reise kurz von einem „behaarten Menschen mit einem Schwanz, länger als eine Spanne“ (zitiert nach Probst, 2013). Nun ist ein Schwanz kein übliches Merkmal des Orang Pendek. Es ist daher fraglich, ob der Abenteurer nicht irgendeine kleinere Affenart gesehen hat, die er dann mit dem Orang Pendek identifizierte. Auch macht er weder Angaben dazu, wo genau auf der doch recht großen Insel dieses Wesen üblicherweise gesehen wird, noch bezeichnet er es ausdrücklich als Orang Pendek.

 

Edward Jacobsen in den Fußstapfen des Orang Pendek (1915)

Der Zoologe fand mysteriöse Fußspuren, die er keiner bekannten Tierart zuordnen konnte. Ein Einheimischer Begleiter identifizierte sie als zum Orang Pendek gehörig. Als Fundort der Fußstapfen wird der Kerinci-Berg, ein Vulkan, angegeben. Ihre Form wird leider nicht näher beschrieben.

 

O.J. Ostingh und der kurzhaarige Orang-Utan (1917)

Der Besitzer einer Kaffeeplantage erblickte in Dataran (nahe der Ostküste der Insel, eher nördlich gelegen) ein Wesen, dessen Aussehen mit den Merkmalen des Orang Pendek übereinstimmt. Trotzdem er ein Europäer war, gab Ostingh an, dass er sich einigermaßen mit der lokalen Fauna auskenne. Einen Orang-Utan habe er bereits gesehen und dessen Fell sei länger gewesen, als das der Kreatur.

 

Primärwald Sumatra
Primärwald mit Fluss auf Sumatra. Ist dies der Lebensraum des Orang Pendek?

 

Herwaardens begnadigter Beweis (1923)

Angeblich nicht auf der Hauptinsel Sumatra, sondern auf „Poleloe Rimau“, am Fluss Banyuasin machte der Niederländer J. van Herwaarden Bekanntschaft mit einem Orang Pendek. Ernst Probst beschreibt den Ort als „eine Insel im östlichen Sumatra“. Wo genau dieser Ort sein soll, ist allerdings fraglich.

 

 

Sucht man „Poleloe Rimau“ auf Google Maps, findet man einen Ort in Tschechien. Im östlichen Sumatra gibt es wohl schon einen Ort, der sich ebenfalls Rimau, ohne „Poleloe“, jedoch mit „Pulau“ nennt (hierfür können unterschiedliche Übertragungen aus dem lokalen Dialekt verantwortlich sein). Er liegt der auf der Insel Sumatra selbst.

Ein Experiment mit einem Übersetzungsprogramm ergibt, dass „Poleloe“ ein Wort ist, dass in der Sprache Sesotho vorkommt. Diese wird in Afrika gesprochen. Es kommt also nicht in Frage, dass der Begriff lediglich „Insel“ bedeuten soll. Gibt man dagegen „Pulau“ ins Programm ein – dieser Begriff ist Teil aller Inselnamen in der Umgebung – wird er einwandfrei als malaysische Übersetzung von „die Insel“ begriffen. An irgendeiner Stelle müssen hier also Informationen durcheinandergeraten sein.

Es ist allerdings vorstellbar, dass es sich bei Pulau Rimau um eine ehemalige Flussinsel handelt, die inzwischen überformt wurde. Die Satellitenbilder deuten darauf hin, dass (Pulau) Rimau heute gut erschlossen ist und land- bzw. forstwirtschaftlich genutzt wird.  Der Ort liegt noch immer relativ nahe am Banyuasin.

 

 

Herwaarden berichtete jedenfalls in einem Artikel, den er für die Zeitschrift „De Tropische Natuur“ verfasst hatte, dass er das Wesen auf einem Jagdausflug entdeckt hatte. Der Körperbau des Kryptids stimmt mit den üblichen Beschreibungen überein. Lediglich das Gesicht unterscheidet sich stark von den Berichten der Einheimischen: Augen und Ohren werden als menschenähnlich beschrieben, die Haare des Kopfes als „Mähne“. Diese Haupthaare reichten dem Wesen bis unter die Schulterblätter.

Im Original schreibt van Herwaarden: „zeer donkere hoofdhaar reikte tot beneden de schouderbladen“ („Sehr dunkles Kopfhaar reichte unter die Schulterblätter“, (Übersetzung: der Verf. mithilfe von Google translate)). Damit waren sie sehr viel länger, als die eher kurzen Körperhaare. Lediglich die beeindruckenden Zähne erinnerten ihn an einen Affen. Er war sich sicher, dass das Wesen weiblich war, was wiederum für einen Geschlechtsdimorphismus sprechen würde. Zunächst wollte er das scheue Kryptid erschießen, brachte es aber nicht über sich, da es ihn bemerkte und wehleidig rief. So verschwand es dann wieder in den Wald.

 

Ein Affenmensch mutiert zum Zauberer (1971)

Der nun folgende Bericht wurde im Rahmen einer Sumatra-Expedition des „Center for Fortean Zoology“ 2003 niedergeschrieben.

Der Augenzeuge „Stephano“, der von Richard Freeman – dem wohl „prominentesten“ Teilnehmer der Expedition – befragt wurde, gibt an, 1971 einen Orang Pendek gesehen zu haben. Er berichtete, einen australischen Abenteurer und Jäger namens John Thompson[1] durch den Kerinci-Seblat-Nationalpark begleitet zu haben. Der Orang-Pendek, den er sichtete, hatte gelbliches Haar. Interessanter Weise beschreibt Stephano das Wesen als Primaten, nicht aber als Menschen.

Der Australier schien die Sache ähnlich gesehen zu haben, denn er wollte das seltene Tier gleich erschießen. Stephano hinderte ihn daran, indem er eine Geschichte erfand. Demnach werde jeder verflucht, der einen Orang Pendek tötet. Die Geschichte zeigte Wirkung. Warum Stephano sie erzählte, ist allerdings nicht klar. Immerhin hatte er einen offensichtlich ziemlich schießwütigen Touristen freiwillig in den Nationalpark geführt. Ein traditioneller Volksglaube spielte hier auch keine Rolle, da der Zeuge ja zugibt, die Behauptung frei erfunden zu haben.

Als Deborah Martyrs Leidenschaft begann (1981)

Wie der letzte Augenzeugenbericht wurde auch dieser hier im Rahmen der CFZ-Expedition 2003 niedergeschrieben. Ob bzw. wo Martyr zuvor bereits über diese Sichtungen geschrieben hat, ist dem Autor nicht bekannt:

Die Journalistin suchte zum fraglichen Zeitpunkt, dem September 1981, bereits nach mehreren Monaten nach dem Orang Pendek. Sie war auch zuvor bereits von seiner Existenz überzeugt, hielt ihn aber für eine Art Orang-Utan.

 

Die erste Sichtung fand direkt auf dem Berg Kerinci statt, einem Vulkan im südwestlichen Sumatra. Martyr beschreibt den Orang Pendek ausdrücklich als nicht-menschlichen, aber auf zwei Beinen laufenden Primaten. Er erschien ihr eigentlich zu stämmig für diese Form der Fortbewegung, bewegte sich aber dennoch grazil. Martyr hatte eine Kamera bei sich, war aber von der Begegnung so schockiert, dass sie kein Foto schoss. Derartiges scheint in der Kryptozoologie leider schon mehr die Regel als die Ausnahme zu sein.

 

Diese Situation wiederholte einige Wochen später. Dieses Mal begegnete sie dem Orang Pendek auf dem Berg Tuju. Dieser ist östlich und in nicht allzu großer Distanz vom Kerinci-Vulkan gelegen. Wiederum gelang es ihr nicht, ein Foto zu schießen, obwohl sie eine Kamera bei sich trug.

 

Dorf Sumatra
Ein modernes Dorf in der Gegend Ketambe auf Sumatra

 

Ein Orang Pendek beim Baumstamm-Weitwurf (1980er)

In diesem Fall konnte das Team des CFZ nicht den Augenzeugen selbst interviewen. Lediglich sein Sohn, ein Mann namens Sahar berichtete ihnen, was der Vater angeblich gesehen hatte.

Sichtungsort ist das heutige Dorf Polompek. Wo genau in Sumatra sich dieses Dorf befindet, lässt sich nicht von Europa aus feststellen. Zum Zeitpunkt der Sichtung war die Örtlichkeit jedenfalls noch bewaldet, wurde aber allmählich gerodet.

Sahars Vater war mit einem Freund zusammen damit beschäftigt, Baumstämme zum Hausbau zurechtzuschneiden. Ein kräftig gebauter Orang Pendek mit dunklem Fell erschien und bewarf die Männer mit Baumstämmen oder Holzscheiten (im englischen Original: „logs“). Verletzt wurde dabei anscheinend niemand. Die Erzählung stimmt aber jedenfalls mit Beschreibungen überein, laut denen der Orang Pendek äußerst kräftig ist.

 

Flussinsel Sumatra
Flussinsel auf Sumatra. Die Bananen auf der Insel zeigen eine landwirtschaftliche Nutzung.

 


[1] John Thompson ist aufgrund der spärlichen Angaben nicht eindeutig zu identifizieren. Der Name kommt mehrmals vor und mehr als dass er 1971 eine Reise nach Indonesien machte, ist von dem Mann nicht bekannt.


Teil 2: Gibt es ein Video?

Die Literaturangaben bieten wir mit dem letzten Teil zum Download an.

Von Dominik Schindler

Dominik Schindler ist aktuell Student der Wirtschaftspsychologie (B. Sc.). Sein Interesse für die Kryptozoologie wurde erstmals im Vorschulalter durch eine Fernseh-Dokumentation über das Ungeheuer von Loch Ness geweckt. Da aber bis heute verhältnismäßig wenig deutschsprachiges Material zur Kryptozoologie verfügbar ist, ruhte dieses Interesse für längere Zeit. Erst seit wenigen Jahren beschäftigt er sich intensiv mit diesem Thema. Auslöser dafür war ein Bericht über den Minnesota Iceman, der auf einer englischsprachigen Website über amerikanische Sideshows veröffentlicht wurde.