Dire-Wolf Time Cover
Lesedauer: etwa 21 Minuten

 

Das traditionell eher zurückhaltende TIME-Magazin hat heute (8. April 2025) in seiner aktuellen Ausgabe nicht nur einen Artikel, sondern sogar ein Titelbild gebracht, das ausgestorbenen Dire-Wolf zeigen soll, der genetisch wieder „zum Leben erweckt“ wurde.

Wir sind skeptisch. Wie so oft hinterfragen wir diese Jubelmeldung.

Was war der Dire-Wolf für ein Tier?

Bei Aenocyon dirus, so der wissenschaftliche Name, handelt es sich um einen sehr großen Hundeartigen (im engeren Sinne = Caniden), der vom mittleren bis oberen Pleistozän auf dem amerikanischen Doppelkontinent lebte. Die Tiere hatten eine durchschnittliche Kopf-Rumpf-Länge von etwa 1,5 m und ein Gewicht von ungefähr 50 kg. Sie waren damit etwa so groß wie große Unterarten des modernen Wolfes (Canis lupus, hier auch als Grauwolf bezeichnet). Aenocynon dirus war aber kräftiger und gedrungener gebaut und hatte kürzere Beine und einen massiveren Kopf. Eine einheitliche Übersetzung des englischen Namens „dire wolf“ gibt es nicht. Manchmal liest man Dunkelwolf, Schattenwolf oder düsterer Wolf. Wir bleiben bei der kaum eingedeutschten Bezeichnung Dire-Wolf.

 

Aenocyon dirus
Traditionelle Aenocyon dirus-Darstellung im Naturkundemuseum Karlsruhe (Foto: Ghedoghedo)

 

Handelt es sich um Vorfahren des Grauwolfes?

Nein, Aenocyon dirus ist nur sehr entfernt mit dem heutigen Grauwolf verwandt. Er war einer der letzten, möglicherweise der letzte Vertreter einer alten Klade von Hundeartigen, die nur auf dem amerikanischen Doppelkontinent vorkamen. Der letzte, noch ungenannte Vorfahre lebte nach bisherigen Kenntnissen vor etwa 5,7 Millionen Jahren, vermutlich im Bereich Alaska-Beringia-Sibirien. Vor mindestens 1,37 Millionen Jahren wanderten die Vorfahren des Dire-Wolfes über die/ von der Bering-Landbrücke nach Amerika ein. In Eurasien starben sie ohne Nachkommen aus. In Amerika entwickelten sie sich vor etwa 800.000 Jahren zu einer Spezies, die Armbruster-Wolf (Aenocyon armbrusteri) genannt wird. Sie wanderte unter anderem in den Nordwesten Südamerikas, wo sie sich halten konnte, während sie in Nordamerika ausstarb. In den Anden und an der Westküste Südamerikas entstand vor etwa 100.000 Jahren die große, schwere Form, die als Dire-Wolf Nordamerika erneut eroberte.

Mit dem Aussterben der Megafauna musste auch der Dire-Wolf von der Bildfläche verschwinden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grauwölfe bereits in Nordamerika etabliert. Die ersten Grauwölfe außerhalb Alaskas datieren auf 57.000 Jahre vor heute. Sie gehörten zu einer heute ausgestorbenen Linie. Weitere Funde von vor 32.000 bis 35.000 Jahre vor heute stehen den den eurasischen Wölfen sehr nahe.

Die beiden Arten koexistierten also mehr als 20.000 Jahre, was deutlich gegen eine ausschließende Konkurrenz spricht. Sie konnten sich auch sicher nicht fruchtbar kreuzen.

 

Wolf im Wald
Rezenter Grauwolf

 

Wieso ist der Dire-Wolf so bekannt?

Für ein ausgestorbenes, zwar spektakuläres, aber nicht so ungewöhnliches Tier ist der Dire-Wolf sehr bekannt. Kein Wunder, ist er doch im doppelten Sinn der Wolf Hollywoods. Bevor seine unerwartete Abstammung genetisch festgestellt wurde, stellte man sich Aenocyon dirus als grobschlächtige, übergroße Wölfe vor. Dies kam bei Fantasy-Autoren gut an. Die Warge aus „Der Herr der Ringe“ sind solche Tiere, im Romanzyklus „Die Legende der Wächter“ und im Rollenspiel „Dungeons & Dragons“ sind sie quasi die stärkere Alternative zum „normalen“ Wolf. Spätestens seit dem Erfolg von „Game of Thrones“ sind sie Teil der Popkultur.

Doch auch auf andere Weise sind Dire-Wölfe Hollywoods Wölfe. Weniger bekannt ist, dass im unmittelbaren Umfeld der reichen Filmstudios die „La Brea“-Teergruben liegen. Hier versanken zahllose Tiere, die häufigste Säugetier-Art war Aenocyon dirus mit über 1700 Individuen, die bisher ausgegraben und ausgewertet wurden. Die Art ist also für eine fossile Art sehr gut erforscht.

 

Dire-Wolf schädel aus La Brea
Dire-Wolf-Schädel aus der Teergrube von La Brea in Los Angeles. Hier wurden mehr als 1700 Individuen gefunden.

 

Wie kommt es, dass er jetzt auf einmal „wieder erschaffen“ wurde?

Hinter der „Wiedererschaffung“ des Dire-Wolfes steht mal wieder die Biotech-Firma Colossal. Wir hatten schon öfter über deren Ambitionen berichtet, ausgestorbene Tiere wieder zum Leben zu erwecken. Die letzte Meldung der Firma war, dass sie Mammutfell-Mäuse geschaffen hatte, Labormäuse, die ein Gen der Fellentwicklung von Mammuts in sich tragen. Die Tiere sind auffällig blond und haben längeres, wuscheliges Fell. Wie weit das korrekt ist, kann man als Laie gar nicht und ein spezialisiertes Labor nur mit Zugang zu den Mäusen herausfinden, denn die Sequenzen, die Veränderungen und deren Quellen sind natürlich als Firmengeheimnis nur unscharf publiziert worden.
Uns, der interessierten Öffentlichkeit bleibt, die Fotos der Tiere zu bewundern. Nichts anderes sollen wir tun – oder vielleicht doch?

Die Zeit der Vorstellung ist sicher ebenfalls kein Zufall.

 

Was haben sie bei Colossal gemacht?

Colossal geht nicht den Weg des „Wir brauchen ein vollständiges Genom und machen daraus das Tier“, wie man sich das landläufig vorstellt. Man geht die Sache von der anderen Seite an. Ein lebendes Tier hat ein funktionierendes Genom, sonst würde es nicht leben. Aus diesem Tier entnimmt man dann Zellen, kultiviert sie und ersetzt dann einzelne Gene, deren Funktion man kennt. In diesem Fall beschreibt das TIME-Magazine es so (Übersetzung aus deepL, überarbeitet vom Autor):

Colossal wählte einen wenig invasiven Ansatz und isolierte Zellen aus dem Blut eines Spenderwolfs. Bei den ausgewählten Zellen handelt es sich um so genannte endotheliale Vorläuferzellen (EPCs), die die Auskleidung der Blutgefäße bilden. Die Wissenschaftler schrieben dann die 14 Schlüsselgene im Zellkern so um, dass sie mit denen des Dire-Wolfs übereinstimmen; es wurde keine alte dire-wolf-DNA in das Genom des Grauwolfs eingespleißt. Der veränderte Zellkern wurde dann in eine entkernte Eizelle übertragen.

Bekannt wurden Veränderungen in folgenden Genen:

  • CORIN, ein Gen für eine Serin-Protease, das in Haar-Follikelzellen exprimiert wird. Sie bestimmt unter anderem Teile der Färbung und der Beschaffenheit der Haare. Die Variante, die die Colossal-Tiere tragen sorgt für hellere Fellfarbe.
  • HMGA2, ein Gen, das direkt auf die Körpergröße bei Wölfen und Hunden wirkt. Gemeinsam mit
  • MSRB2, das auf die Ohr- und Schädelform wirkt, hat es Auswirkungen auf Größe und Körperbau der Tiere. Da man diesen und nahe liegenden anderen Genen, die ebenfalls Größe und Körperbau steuern, besondere Bedeutung zumisst, hat man Aenocyon-spezifische Gen-Enhancer eingebaut. Das sind Sequenzen, die es wahrscheinlicher machen, dass ein Gen abgelesen und in RNA transkribiert wird.

Insgesamt steckt dort noch wesentlich mehr fortgeschrittene Genetik hinter, als es auf den ersten Blick glauben macht. Colossal ist nicht erratisch vorgegangen, hat einen Embryo mit den gewünschten Genvarianten erzeugt und geguckt, was rauskommt. Man hat ein detailliertes Profil aller potenziellen Auswirkungen auf das „Endprodukt“ erstellt. Colossal wollte vermeiden, Genvarianten einzubringen, deren Auswirkungen nicht genau bekannt waren. Ein Beispiel hier ist der Transkriptionsfaktor LCORL, der regelt, ob ein Gen (jetzt) abgelesen und in RNA übersetzt wird. Er ist einer der Faktoren, der neben anderen für die Körpergröße bei Menschen, Pferden und Caniden verantwortlich ist. LCORL greift weit in die Regulation anderer Gene ein, so dass sich Veränderungen an zahlreichen Stellen und Zeitpunkten im Heranwachsen auswirken können. Bei Wölfen sind drei Varianten dieses Gens bekannt. Colossal verwendet keine Genvariante von Aenocyon, sondern die Variante, die in großen Grauwölfen zu finden ist, um keine unvorhersehbaren Probleme hervorzurufen.

Auch bei anderen Genen wurden Varianten gewählt, die zu möglichst wenig Problemen führen sollten. Drei weitere Gene, OCA2, SLC45A2 und MITF steuern die Entwicklung von Melanozyten, Zellen, die schwarzen Farbstoff tragen. Die bekannten genetischen Varianten bei Aenocyon führen zu einem hellen Fell, bei Canis lupus sorgt die selbe Sequenz zu Taubheit und Blindheit. Wieso eine für Aenocyon sicher Variante bei Canis lupus zu tödlichen Problemen führt, ist nicht veröffentlicht. Vermutlich liegt es an der Interaktion mehrerer Genprodukte, die nicht erforscht ist.

Um hier keine Probleme zu bekommen, wurde das helle Fell nicht über die Gensequenzen des Dire-Wolfes codiert, sondern auf einem für Canis lupus sicheren Weg.

 

Laborarbeit
Arbeit mit zahlreichen Proben

 

Der Rest ist fortgeschrittene Tiermedizin: Die Techniker von Colossal ließen 45 ihrer Zellen in Nährlösungen zu Embryonen heranwachsen. Einige davon wurden Hündinnen eingepflanzt. Die Mischlingshündinnen wurden wegen ihrer allgemeinen Gesundheit, aber auch wegen ihrer Größe ausgewählt, denn man erwartete große Babies. Daher bekam jede Leihmutter auch nur einen Embryo implantiert. Offenbar war das Verfahren sehr erfolgreich und die Tiermediziner von Colossal sehr gut, denn kein Embryo wurde abgestoßen und alle Jungtiere kamen lebend zur Welt. Am 1. Oktober 2024 kamen zwei Jungtiere, Romulus und Remus zur Welt, am 30. Januar 2025 Khaleesi. Alle Junge kamen durch Kaiserschnitt auf die Welt und bekamen für die ersten Tage eine Amme, später wurden sie mit der Flasche aufgezogen.

 

Junge Dire-Wölfe?
Romulus und Remus als Welpen (Foto: Colossal Biosciences)

 

Wie lief das genau mit den Gensequenzen?

Ein rezenter Wolf (also Canis lupus) hat etwa 19.000 Gene. Der allergrößte Teil davon ist sehr konservativ und unterscheidet sich innerhalb der Verwandtschaft nicht. Die Unterschiede zwischen den Arten machen vergleichsweise wenige Gene aus, und hier wiederum nur wenige Locations, oft nur einzelne Basenpaare. Daher war die Idee, nach Unterschieden im Genom zwischen Canis lupus und Aenocyon dirus zu suchen, naheliegend.

Die Gensequenzen stammten aus zwei subfossilen Überresten: Einem ca. 13.000 Jahre alten Zahn aus dem Sheridan Pit in Ohio und einem 72.000 Jahre alten Ohr-Knöchelchen aus American Falls, Idaho. Unbekannt ist, wie vollständig sie sind – es gibt schließlich kein vollständiges Genom als Vorlage.

Wie hat man die Dire-Wolf-DNA ins Genom des Grauwolfe bekommen?

Aus mir unbekannten Gründen macht Colossal sehr deutlich, dass keine Dire-Wolf-DNA ins Genom des Grauwolfes implantiert wurde. Man hat die Dire-Wolf-DNA abgelesen, die bekannte Sequenz technisch 1:1 nachgebaut und diese mit der Genschere CRISPR an den analogen Stellen der Grauwolf-DNA eingesetzt. Selbst wenn man die Dire-Wolf-DNA geklont und dann direkt mit CRISPR an Ort und Stelle gebracht hätte, es wären nicht die 13.000 bzw. 72.000 Jahre alten Moleküle, sondern deren moderne Kopien gewesen.

Tatsächlich änderte Colossal die DNA nur an 20 Stellen in insgesamt 14 Genen – von 19.000.

So beschreiben sie die Arbeit in Stichpunkten:

  • Entnahme und Sequenzierung alter DNA aus zwei Fossilien von Dire-Wölfen;
  • Zusammenstellung alter Genome aus beiden Fossilien und Vergleich mit Genomen lebender Caniden wie Wölfen, Schakalen, Füchsen und Indischen Rothunden (Cuon alpinus);
  • Identifizierung von Genvarianten, die spezifisch für Dire-Wölfe sind;
  • Multiplex-Gen-Editing an einem Spendergenom ihres nächsten lebenden Verwandten, des Grauwolfs, mit dem Ergebnis, dass an 20 Stellen in 14 Genen editiert wurde. Bei 15 der neu eingeschnittenen Sequenzen handelt es sich um ausgestorbene Varianten;
  • Screening der editierten Zelllinien durch Sequenzierung des gesamten Genoms und Karyotypisierung;
  • Klonen hochwertiger Zelllinien durch somatischen Zellkerntransfer in Spendereizellen;
  • Embryotransfers und Betreuung der Leihmutterschaften;
  • Erfolgreiche Geburt einer ausgestorbenen Spezies.

Welche Änderungen hat die veränderte DNA am lebenden Tier hervorgerufen?

Offenbar haben die wenigen Änderungen im Erbgut eine ganze Reihe von physischen Veränderungen ihrer Träger bewirkt. Romulus und Remus tragen ein weißes Fell, sie sind größer als gleichaltrige Wölfe, haben kräftigere Schultern, einen breiteren Kopf mit voluminöseren Kiefern und größeren Zähnen. Ihre Beine sind muskulöser, ihr Heulen und Winseln ist charakteristisch und unterscheidet sich von Wölfen.

 

Wold Romulus
Romulus im Schnee (Foto: Colossal Biosciences)

 

Was passiert nun mit den Tieren?

Nur weil die Tiere jetzt etwa ein halbes Jahr alt sind, heißt nicht, dass die Genveränderungen auch „funktionieren“. Dazu muss man sie weiter beobachten. Die meisten wesentlichen Meilensteine im Leben haben sie überstanden: Die Eizelle hat sich erfolgreich zu einem Embryo entwickelt, die Schwangerschaften sind erfolgreich verlaufen, die Tiere sind lebend zur Welt gekommen und haben die Nahrungsumstellung von Milch auf tierische Nahrung überstanden. Nun folgt die Geschlechtsreife, eine Pubertät ist ja bei Caniden kaum ausgeprägt, dennoch ist die Umstellung der Geschlechtsorgane, verbunden mit einer signifikanten Veränderung des Hormonsystems ein weiterer Meilenstein.

Bei Wölfen setzt die Geschlechtsreife in der Natur in der Regel mit zwei Jahren ein, bei Tieren in Gehegehaltung kann dies deutlich früher, bereits nach 9 bis 10 Monaten passieren. Über den Zeitpunkt der Geschlechtsreife bei Dire-Wölfen weiß man – genau: gar nichts.

Dass mit der Beobachtung der Colossal-Tiere auf jeden Fall Neues gelernt wird, spricht dafür, die Tiere zu behalten. Jede neue Erkenntnis kann eine Pressemeldung wert sein, alleine schon deswegen werden die Tiere weiter und mit großem Aufwand gepflegt.

Wo sind sie?

Wo sich die Tiere aktuell aufhalten, ist Firmengeheimnis. Colossal gibt im TIME an, sie würden in einem 2000 acre (=ca. 8.093.712 m² = 8,1 km², knapp die Größe des Tegernsees) Gehege gehalten, das von einem 3 m hohen Zaun umgeben ist und neben dem es eine Tierklinik und andere Einrichtungen für die Tierpflege gibt. Die kleinere Einrichtung, wo der/die Reporter von TIME sie besuchen konnten, ist nicht ihre dauerhafte Heimat. Sie werden nach modernen, zooüblichen Methoden gefüttert (Ganztierfütterung von Rindern, Pferden und Wild) und tiermedizinisch sowie biologisch begleitet.

„Bisher haben sie keinen Versuch gemacht, lebende Beute zu jagen, und wir bieten ihnen auch keine an“, sagt Paige McNicle, die den Titel der „Manager of animal husbandry“ trägt. Trotzdem meint sie „Wenn ich ein Hirsch wäre, ich würde einen Bogen um sie machen.“

Was mit den Tieren in Zukunft passiert, wird nicht diskutiert.

 

Romulus und Remus
Romulus und Remus, zeigen sie den Phänotyp von Dire-Wölfen? (Foto: Colossal Biosciences)

 


Meinung

Wir haben es in diesem Komplex eigentlich drei Gretchenfragen zu tun, um deren Beantwortung sich sowohl Colossal wie auch das TIME-Magazin herumlaviert haben:

Handelt es sich um echte Dire-Wölfe?

Was sagt die Genetik genau?

Wir haben hier Tiere, die sich an 20 Genorten von rezenten Grauwölfen unterscheiden und damit einen deutlich anderen Körperbau zeigen. Colossal hat hier einen Weg beschritten, der nicht frei jeder Kritik ist. Man wusste, dass Aenocyon dirus im Durchschnitt größer war, als rezente Canis lupus. Anstatt einem Aenocyon-Gen die Größensteuerung zu überlassen, hat man einfach eine Genvariante von großen Canis lupus genommen – natürlich werden die Tiere groß.

Die Probleme mit der Fellfarbe zeigen die Grenzen, an die Colossal noch stößt. Man hat dort herausgefunden, dass die Haarfollikelzellen wenig bis gar kein Melanin produzieren. Nimmt man die Genvariante, die man in beiden Proben von Aenocyon gefunden hat, wird das Empfängertier mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit früher oder später blind und taub. Wenn man herausfindet, wieso das so ist (vermutlich fehlt ein Genprodukt in irgendwelchen Zellen, die mit Sehen, Hören oder Reizweiterleitung zu tun haben), kann man auch herausfinden, wieso das bei Aenocyon nicht so ist, und beim Empfängertier eine Variante des Aenocyon-Gens einspielen.

Statt dessen wählt man eine Canis-lupus-Variante der Gene für helles Fell. Und – Oh, Überraschung! – die Tiere haben helles Fell.

Zahlreiche Vertreter der heute lebenden Hundeartigen haben rotes oder rötliches Fell. Rote Fellfarbe entsteht häufig, wenn Melatonin fehlt. Ich wäre in dem Zusammenhang also sehr vorsichtig, „einfach so“ das helle Fell als authentisch zu bezeichnen, dessen Genetik ist es auf keinen Fall.

 

Mähnenwolf
Mähnenwölfe haben ein rötliches Fell. War der Dire-Wolf auch rötlich?

 

Unbekannt bleibt, ob sich Colossal auch die Teile der DNA angesehen hat, die keinem bekannten Gen zugeordnet werden können, die sogenannten „noncoding DNA“. Bei Menschen macht sie 95% des Genomes aus, bei Caniden dürfte dies in ähnlicher Höhe liegen. Früher ging man davon aus, dass sie keine direkte genetische Funktion hat, aber irgendwie „mitgeschleppt“ wird, man bezeichnet sie als „Junk-DNA“. Dies erscheint unglaubhaft, da der Aufbau von DNA viel Energie und teure Ressourcen verbraucht, wozu schleppt man dann 95% Müll mit sich herum. Tatsächlich entdeckt man jüngst immer wieder Funktionen, die diese Junk-DNA hat, ohne die ein Organismus nicht funktionieren kann. Dennoch ist unbekannt, wie viel der nicht-kodierenden DNA tatsächlich eine Funktion hat.

Falls Colossal „nur“ die codierenden Sequenzen, also bekannte Gene, bei Wolf und Dire-Wolf verglichen hat, ist ihnen 95% der DNA unter den Teppich gefallen. Ob die Funktionen, die Wolf-Junk-DNA erfüllt, Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Träger hat, ist völlig unklar.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Zwischen den beiden Proben vom Dire-Wolf liegen fast 60.000 Jahre, weitere 13.000 zum rezenten Grauwolf.

 

Ein wesentlicher Teil fehlt jedoch völlig und das unwiederbringlich: Ein Tier besteht nicht nur aus Knochen, Muskeln, Organen, Haut und Fell. Alle höheren Tiere definieren sich durch ihr Verhalten. Die meisten Caniden leben in mehr oder weniger großen Familienverbänden. Dies ist auch bei Aenocyon dirus zu erwarten. In diesen Verbänden lernen sie zwangsläufig sozial, alles, was sie zum Leben brauchen: Sozialverhalten von dem Umgang mit gleichaltrigen, stärkeren oder schwächeren Tieren, mit Geschlechtspartnern und Jungtieren. Sie lernen Jagen, alleine und arbeitsteilig, vom Anpirschen über die Hetzjagd bis zum Todesbiss. All dieses Wissen ist verloren gegangen.

Vieles davon können sie alleine oder im Umgang miteinander lernen. Nur niemand weiß, ob das auch dem entspricht, was die letzten Dire-Wölfe vor 15.000 Jahren gelernt hatten. Sie werden neue Traditionen begründen, aber ist es nicht auch das, was einen Dire-Wolf ausmacht?

 

Was sagt die Morphologie bzw. Paläontologie dazu?

Kurz: Nahezu gar nichts. Wir haben es hier mit Jungtieren zu tun, die gerade mal maximal ein halbes Jahr und ein paar Tage alt sind. Bis sie erwachsen sind, wird ein Vergleich ihrer Knochen mit denen aus La Brea und zahlreichen anderen Fundorten auf dem amerikanischen Doppelkontinent kaum möglich sein.

Dazu kommt die Art der Züchtung: Alle drei Tiere sind als einzige Junge einer Leihmutter ausgetragen worden, bei einer Art, deren Würfe üblicherweise 4 bis 6 Welpen umfassen. Vermutlich wurden die Leihmütter zudem optimal versorgt, man wollte schließlich nicht den Verlust eines der teuren Embryonen riskieren. Es ist also davon auszugehen, dass die Jungtiere groß und schwer auf die Welt kamen.
Vergleichstiere, bei denen unveränderte Genome von Wölfen verwendet, in Spenderzellen implantiert und gleich weiter behandelt wurden, wie die genveränderten Tiere, gibt es leider nicht.

Ich gehe davon aus, dass Colossal Interesse daran hat, die Tiere mindestens bis nach der Geschlechtsreife zu pflegen, ggf. sogar mit ihnen zu züchten. Ob wir dann noch etwas von ihnen hören, wird von vielen Faktoren abhängen: werden sie geschlechtsreif, leben sie gesund weiter, klappt die Fortpflanzung oder fliegen die neu eingebrachten Sequenzen wieder aus dem Genom heraus, will Colossal sie behalten, was neben den Kosten auch davon abhängt, ob man nicht weitere, spektakulärere Tiere erschaffen konnte.

Wer weiß es?

Tatsächlich wissen, wie ein lebender Dire-Wolf aussah, wie sich sein Heulen anhörte, wie sie lebten, das kann kein lebender Mensch. Vielleicht wusste es der Arlington Springs Man, aber er kann es nicht mehr weiter sagen. Felszeichnungen, die sicher einen Dire-Wolf zeigen, sind nicht bekannt. Ich konnte auch nicht herausfinden, ob es im Verbreitungsgebiet des Dire-Wolfes überhaupt Felsbilder der Paläo-Indianer gibt. Die nächste Schwierigkeit, die sich dann ergäbe, wäre die Unterscheidung zwischen Dire-Wolf, Grauwolf, Rotwolf, Kojote und Hund.

 

Vor dem genetischen Hintergrund, hauptsächlich im Erbgut von Canis lupus gearbeitet zu haben, ja, sich sogar absichtlich gegen den Einsatz Aenocyon dirus-spezifischer Sequenzen entschieden zu haben, kann man man kaum davon sprechen, dass es sich hier um „echte“ Dire-Wölfe handelt. Selbst das TIME-Magazin tut das nicht und spricht nur von „wolfes“. Auf mich wirkt es so, als würde man versuchen, einen 1966er Ford Mustang zu rekonstruieren, in dem man aus einer historischen Karosserie einen Plan erzeugt, die Maße des Plans optimiert, dann die Karosserie mit Hilfe eines Laserschneiders und -schweißgerätes 1:1 nachbaut, mit modernem Acryllack beschichtet und auf das Chassis eines gerade produzierten 3er BMW aufsetzt. Es ist (noch) kein Mustang, aber er sieht ein Stückweit so aus.

 

Gab es einen Wissensgewinn?

Den Wissensgewinn gab es auf vielen Ebenen. Auf der technischen Ebene hat man vor Ort das Klonen und die CRISPR bei Canis-Zellen gelernt. Man weiß nun, dass mindestens einer der untersuchten Dire-Wölfe so ziemlich das Gegenteil von dire (dunkel, düster) war, sondern vermutlich helles Fell hatte. Man hat Moleküle in 3D-Modellen nachgebaut und deren Funktion nachvollziehen können.
Für weitere Arbeit an der genetischen Rekonstruktion von Aenocyon dirus ist das alles von Vorteil. Da man nicht proklamiert, das Projekt mit den drei Tieren beendet zu haben, kann das als beachtlicher Zwischenerfolg gelten.

 

Was wird mit den Tieren passieren?

Colossal hat die Tiere zunächst sicher auf einer gewaltigen, umzäunten und sicher scharf bewachten Anlage irgendwo in der USA (?) untergebracht. Mindestens bis zur Geschlechtsreife sind sie sicher spannende Beobachtungsobjekte. Vielleicht erlaubt Colossal ihnen die natürliche Fortpflanzung, wer weiß, was mit den Dire-Wolf-Genen in der F1 passiert?

Der Rest bleibt offen. Die Unterhaltung einer über 8 km² große Anlage mit eigener Tierklinik veterinärmedizinischen Personal und „ganz normalen“ Tierpflegern kostet eine Menge Geld. Was passiert, wenn Colossal das Interesse an ihnen verliert? Werden sie dann an einen Zoo verkauft? Sie dürften eine riesige Attraktion darstellen, nicht nur für zahllose Fantasy-Fans, die vermutlich von weit her kommen.
Der tatsächliche Show-Wert ist kaum abzuschätzen, zumal es sich ja „nur“ um genetisch veränderte Wölfe handelt und „neue“ Zootiere in der jüngeren Vergangenheit oft nur von Fachleuten wirklich wertgeschätzt wurden.

 

Ein weiteres Problem ergibt sich noch: Das genetische Alter eines Tieres wird durch die Länge der Telomere festgelegt. Dies sind die Enden eines Chromosoms, die bei sehr jungen Organismen sehr lang sind, bei jeder Teilung geht ein Stück verloren (sie gehören auch zur noncoding DNA und haben trotzdem was zu sagen). Hieraus ergibt sich ein Klontier-typisches Problem: Die restliche Lebenserwartung eines Klones ist genauso hoch wie die des Spendertieres.

Beispiel: Mein Labormausstamm ABS hat eine Lebenserwartung von 18 Monaten. Ein 8 Monate altes Tier hat also eine restliche Lebenserwartung von 10 Monaten. Entnehme ich ihm zu diesem Zeitpunkt Zellen mit seinem Genom und pflanze dieses in eine entkernte Eizelle ein, so hat das Tier, das daraus heranwächst, ebenfalls eine restliche Lebenserwartung von 10 Monaten, ggf. abzüglich der Schwangerschaftsdauer.

Ob dieses Problem zwischenzeitlich gelöst wurde und welches Alter der Spender des Wolfsgenoms hatte, kann ich nicht sagen. Es könnte aber sein, dass Romulus, Remus und Khaleesi dadurch eine stark reduzierte Lebenserwartung haben.

Dies führt direkt zur nächsten Frage:

 

Warum?

oder präziser: „Warum hat Colossal diese Tiere jetzt vorgestellt?“

Bei Romulus, Remus und Khaleesi handelt es sich um erste lebensfähige Tiere auf dem Weg zum Dire-Wolf. Sie sind Canis lupus, die einzelne Gene von Aenocyon dirus in sich tragen und deren Funktion man überprüfen möchte. An anderen Stellen ist man noch nicht so weit, man hat – obwohl Aenocyon-Gene bekannt sind – Canis-Gene verwendet, um den Phänotyp zu erzeugen, den man bei Aenocyon erwartet.

Ich gehe davon aus, dass die nächste Stufe darin besteht, die bekannten Aenocyon-Gene Stück für Stück anzuwenden, weitere Tiere zu erzeugen, die auch genetisch dem Dire-Wolf immer ähnlicher werden. Die Tatsache, dass ein gewaltiges Gehege gebaut wurde, das sicher noch eine ganze Handvoll Tiere aufnehmen kann, deutet darauf hin.

Doch warum wurden diese Tiere vorgestellt? Die Tiere sind Jungtiere, wären sie Menschen, gingen sie in die Grundschule. Es ist eigentlich zu früh, sie vorzustellen, aber: Die Mammutfell-Mäuse, die erst vor Kurzem vorgestellt wurden, waren für Wissenschaftler ein toller Erfolg. Laien hat dieser Meilenstein eher zum Spott veranlasst: „Die wollen Wollhaar-Mammuts züchten, aber haben nur Wollhaar-Mäuse hinbekommen!“ oder „Eure Mammuts sind … etwas … übersichtlich“.

Und warum wurden sie jetzt vorgestellt? Jungtiere vorzustellen hat mehrere Vorteile: Das Kindchenschema ist noch ausgeprägt, sie wirken niedlicher als Erwachsene. Dazu kommt, dass Handaufzuchten im Jugendalter sicherlich umgänglicher sind, als Erwachsene, die mehr oder weniger frei in einer gewaltigen Anlage leben. Man darf nicht vergessen: Aenocyon dirus war ein Aprex-Predator, der in der Nahrungspyramide oberhalb von Canis lupus aufgestellt war, zudem größer und kräftiger. Ob PR-Arbeit mit ausgewachsenen Dire-Wölfen so einfach ist, wird die Zukunft zeigen – falls die Tiere eine Zukunft haben, siehe Telomer-Problem.

Hinzu kommt: Colossal Biosciences ist ein US-amerikanisches Unternehmen, das aktuell jede Menge Geld für teure gentechnische Arbeit, Wissenschaftler und Tiermediziner ausgibt und bisher nur Spott geerntet hat. Von seinen Produkten kann man dort nicht leben, ja nicht einmal das Toilettenpapier in der Firmenzentrale bezahlen. Man ist auf Investitionen und Spenden angewiesen. Da hilft ein TIME-Cover mit einem vermeintlichen Erfolg gewaltig!

Zudem schwingt Präsident Trump in Washington einen gewaltigen Rotstift, es ist nicht auszuschließen, dass bei Colossal staatliche Förderung abgedreht wurde, dies befürchtet oder erwartet, mit anderen Forschungsorganisationen noch härter um Drittmittel konkurrieren zu müssen. Da ist PR in eigener Sache sicher nicht schädlich.

 

Was bleibt?

Die Veröffentlichung im TIME-Magazin mit dem durchgestrichenen „Extinct“ auf der Titelseite ist viel zu hoch gegriffen. Die Tiere sind zweifellos ein toller, jedoch nicht bahnbrechender Erfolg auf dem Weg zur De-Extinction des Dire-Wolfes, aber sie sind keine Dire-Wölfe. Sie sind genetisch produzierte Abbilder, die absichtlich nicht einmal so authentisch wie möglich sind. Selbst TIME bezeichnet sie als „wolfes“, nicht als „dire-wolfs“. Auch wenn sie mit modernsten gentechnischen Mitteln „erzeugt“ wurden, als Produkt stehen sie eher in einer Reihe mit den aktuellen Auerochsen-Abbild-Zuchten und nicht mit ihren ausgestorbenen Verwandten.

Ihr tatsächlicher wissenschaftlicher Wert wird erst in einigen Jahren klar werden.

Wie bei vielen bahnbrechenden Neuerungen werden sie kurz gefeiert werden, bis jemand kommt, das Konzept aufgreift und in wesentlich umfangreicheren Maßstab realisiert. Vermutlich wird das Colossal-intern funktionieren.


 

Ist das ein Grund zu feiern?

In der Netzgemeinde wird die Sache sehr negativ gesehen. Colossal steht wegen seiner sehr offensiven Öffentlichkeitsarbeit und seinen Zielen dort auch generell in der Kritik. Hinzu kommt, dass die Meldung „Wir haben einen Dire-Wolf geschaffen“ schlicht falsch ist. Die Firma kommt nicht nur mit einer Lüge an die Öffentlichkeit (das ist ja noch nie vorgekommen), sondern prägt mit ihren Tieren ab jetzt, wie die Rekonstruktion eines Dire-Wolfes auszusehen hat – vergleichbar dem Brüllen eines T. rex aus Jurassic Park oder den blauen Längsstreifen bei nackten Velociraptoren, die man immer noch in Spielzeuggeschäften findet.

Ein weiterer Punkt: Den Naturschutzbemühungen tut man damit einen Bärendienst. Mit diesem „de-extinction“ schafft man im Kopf von Laien die Möglichkeit „Wenn die Art ausgestorben ist, ist das nicht schlimm. Wenn wir sie brauchen, können wir sie wieder erschaffen.“ Von daher war der Dire-Wolf sicher ein geeigneteres Beispiel als der Dünnschnabel-Brachvogel, den Wolterstorf-Molch oder der Atlas-Löwe. Auch ein Smilodon populator, der berühmte Säbelzahntiger, dürfte nicht nur wegen eines fehlenden genetischen Vorbildes deutlich schwieriger zu betreuen sein.

 

Trotzdem freue ich mich. Ich freue mich, weil einige zumindest entfernte Kollegen einen irren Job gemacht haben. Sie haben keine Kommentare geschrieben, sie haben nicht auf Kongressen die Möglichkeit diskutiert, sie haben keine theoretischen Paper verfasst – sie haben mit erstaunlich viel Umsicht für das Tierwohl diese Chimären aus zwei Tierarten geschaffen, die man als Abbildzucht bezeichnen kann.

Und, was ich für noch wertvoller halte: Sie haben gezeigt, dass Dire-Wölfe keine ständig knurrenden, drohenden oder sich beißenden Biester waren, die Fotos zeigen ja etwas ganz anderes.

 


Dieser Artikel wurde am 08.04.2025 fertig gestellt und einmal überarbeitet.

Von Tobias Möser

Tobias Möser ist Diplom-Biologie und hat zudem Geologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schon als Kind war er vor allem an großen Tieren, Dinosauriern, später Walen interessiert. Mit der Kryptozoologie kam er erst 2003 in näheren Kontakt. Seit dieser Zeit hat er sich vor allem mit den Wasserbewohnern und dem nordamerikanischen Sasquatch befasst. Sein heutiger Schwerpunkt ist neben der Entstehung und Tradierung von Legenden immer noch die Entdeckung „neuer“, unbekannter Arten. 2019 hat er diese Website aufgebaut und leitet seit dem die Redaktion.