Der Stammbaum der Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten von einem einfachen Baum zu einem nahezu unübersehbaren Busch entwickelt. Neue Fossilfunde und neue Methoden sorgen für neue Ergebnisse. Eines davon ist die Erstbeschreibung des Homo bodoensis, die im Oktober 2021 erfolgte. Dieser Beitrag ist vom 26. Oktober 2021.
Der Holotyp: ein lange bekanntes Fossil
Holotyp der neu beschriebenen Art ist der Bodo-Schädel. Der nahezu vollständige Schädel wurde bereits 1976 von einer Forschergruppe unter Leitung von Jon Kalb entdeckt und ausgegraben. Das Fossil setzt sich dabei aus insgesamt 41 einzelnen Elementen zusammen, die mühsam ineinander gepuzzelt werden mussten.
Fundort ist Bodo D’Ar im Mittleren Awash in der Afar-Senke in Äthiopien.
Die Wissenschaftler konnten das Alter des Schädels anhand der umgebenden Ablagerungen nur grob schätzen und datierten ihn auf 700.00 bis 125.000 Jahre vor heute. Aufgrund dieser unscharfen Datierung haben sich alle Beteiligten zurückgehalten, eine taxonomische Aussage zu tätigen. Das Fossil wurde als Bodo-Schädel bekannt.
Der Bodo-Schädel
Der Bodo-Schädel wirkt sehr robust. Er ist vergleichsweise groß und seine Knochen sind sehr dick, insgesamt ist er aber flach. Die Nase war zu Lebzeiten breit, der Überaugenwulst ist deutlich zu erkennen. Vermutlich war sein „Besitzer“ ein erwachsener Mann.
1978, bei der ersten Veröffentlichung des Fossils konstatierten die Wissenschaftler, dass er zweifelsfrei archaischer als Homo sapiens sei, jedoch weniger archaisch als Homo erectus. Sie stellten ihn in das (damals allgemein anerkannte) Übergangsfeld zwischen Homo erectus und Homo sapiens. Da eine Zuordnung zu beiden oder keiner der beiden Arten möglich sei, unterließen sie eine Erstbeschreibung mit taxonomischer Aussage.
1982 wurden die Bruchstücke vollständig gereinigt und endgültig zusammengefügt. Hierbei bestätigte sich, dass es sich beim Bodo-Schädel um eine Mosaikform handelt.
1994 konnten Techniker den Schädel mit der K-Ar-Methode auf 640.000 (+- 30.000) Jahre datieren.
1996 publizierte Philip Rightmire 1996 eine erneute, ausführliche Beschreibung des Schädels und eine stammesgeschichtliche Einordnung. Auch er betonte die Mosaikform des Schädels mit Merkmalen von Homo sapiens und erectus. Auch das Gehirnvolumen mit 1200 bis 1325 ml interpretierte er als intermediär. Zum Vergleich: Das Hirnvolumen von Homo erectus lag bei 650 – 1250 ml, bei Homo sapiens betrug/beträgt es 1100 – 1800 ml.
Er stellte damals den Schädel erstmals in die Nähe einer beschriebenen Menschenart: Homo heidelbergensis.
Die Erstbeschreibung von Homo bodoensis
Die Autoren der Erstbeschreibung, Mirjana Roksandic, Predrag Radovic, Xiu-Jie Wu und Christopher J. Bae schlugen in der vorliegenden Arbeit vor, alle zu Homo heidelbergensis gestellten Funde, die bereits (fortschrittliche) Merkmale des Neandertalers besitzen, zu Homo neanderthalensis zu stellen. Somit gehören alle europäischen Funde aus dem Mittelpleistozän, wie auch den Unterkiefer von Mauer, die französischen Arago-Funde und die Menschen aus Bilzingsleben zum Neandertaler.
Als alternativen Weg schlagen die selben Autoren vor, den Bodo-Menschen als eigene Art anzuerkennen. Sie geben ihm daher den Namen Homo bodoensis.
Die Paratypen
Neben dem Bodo-Schädel haben die Autoren noch weitere Fossilien zu Homo bodoensis gestellt: lt: Kabwe 1, Ndutu 1, Saldanha 1, L.H. 18 (Ngaloba) aus Tansania,[4] Salé 1 aus Marokko[5] und Ceprano 1. Homo bodoensis war also in Afrika weit verbreitet.
Folgen für den menschlichen Stammbaum
Am Stammbaum auf Individualebene ändert die Erstbeschreibung von Homo bodoensis erst einmal überhaupt nichts. Jedes Individuum steht stellvertretend für eine Population, die ihren Platz im Stammbaum nicht ändert, nur weil ein Wissenschaftler einen neuen Namen vergibt.
Auf Artebene sieht die Sache anders aus. Falls (!) Homo bodoensis anerkannt wird und die Sichtweise der Autoren Bestand hat, würde die Abstammungslinie des modernen Menschen in Afrika von Homo erectus über Homo bodoensis zu Homo sapiens führen.
Kommentar
Schon wieder eine neue Menschenart
Die ist die zweite in diesem Jahr beschriebene Menschenart. Ob diese Inflation der Neubeschreibungen dem Verständnis der menschlichen Abstammung gut tut, sei dahin gestellt. Ich halte es jedoch für kritisch, jede neue Merkmalskombination oder jedes lokal neue Merkmal direkt als Anlass zu nehmen, einen neuen wissenschaftlichen Namen zu schaffen. Die bis in die letzten Jahre gepflegte Form, vom (Lokalität)-Hominiden zu sprechen und bei Individuen das Fossil direkt zu nennen (z.B. Kabwe 1) hat sich hervorragend bewährt. Eigentlich gab es keinen Grund, sie zu ändern.
Leider hat sich herausgestellt, dass die paläoanthropologische Gemeinde sehr unterschiedliche Auffassungen bei der Abgrenzung von Arten hat. Dies trifft grundsätzlich auf alle Bereiche der speziellen Zoologie zu, da Individuen innerhalb von Populationen oder Arten immer einen gewissen Schwankungsbereich bei morphologischen Merkmalen aufweisen. Bei paläontologischen Einschätzungen kommt noch das Problem hinzu, dass sich Arten ja während ihrer Evolution verändern – wo will man die Grenze ziehen?
Hochproblematisch: Paratyp Kabwe 1
Die Autoren der Erstbeschreibung, Roksandic, Radovic, Wu und Bae haben den Schädel Kabwe 1 als Paratypen mit in die Erstbeschreibung einbezogen. Dies ist biologisch möglicherweise sinnvoll (der Kommentator kann das nicht abschließend bewerten), jedoch taxonomisch höchst problematisch:
Ein Paratyp gehört nach Auffassung der Erstbeschreiber definitiv zur selben Art. Er dient dazu, die Stabilität bzw. Variationen von Merkmalen zu dokumentieren. Oft werden ganze Serien von Paratypen angelegt. Eine weitere, „inoffizielle“ Funktion haben Paratypen zudem: Geht der Holotyp verloren, definieren sie die Art genauso wie der Holotyp.
Kabwe 1 ist einer der ersten größeren afrikanischen Hominidenfunde. Er wurde 1921 in Broken Hill (heute Kabwe) im damaligen Rhodesien, heute Nord-Sambia gefunden. Anhand des Schädels, der wenige Monate später bereits dem British Museum zuging. Arthur Smith Woodward beschrieb anhand des Schädels im November 1921 die Art Homo rhodesiensis. Woodward ordnete den Fund damals bereits stammesgeschichtlich sehr gut als nahen, möglicherweise direkten Vorfahren des modernen Menschen ein.
Aktuell ist die stammesgeschichtliche Position des Schädels Kabwe 1 unumstritten. Zahlreiche Anthropologen fassen ihn mit Bodo 1, Petralona 1, den Arago-Fossilien zusammen. Kontrovers ist die Bezeichnung der Gruppe als archaische Homo sapiens, Homo rhodesiensis oder Homo heidelbergensis. Inhaltlich ist sie mehr oder weniger identisch mit Homo bodoensis.
Nomenklatorische Konsequenz: Homo bodoensis ist ein Synonym
Hier kommt aber ein nomenklatorisches Problem hinzu: Kabwe 1 ist der Holotyp zu Homo rhodesiensis. Jede Gruppe, die Kabwe 1 umschließt und in den Artstatus erhoben wird, muss nach dem Senioritätsprinzip* Homo rhodesiensis heißen. Und dass die Erstbeschreibung von Homo rhodesiensis 99 Jahre und 11 Monate älter ist als die von Homo bodoensis, ist wiederum nicht anzuzweifeln.
Die Konsequenz daraus: Homo bodoensis ist ein Junior-Synonym zu Homo rhodesiensis.
* Das Senioritätsprinzip in der Nomenklatur besagt, dass immer die älteste gültige Erstbeschreibung einer Art Gültigkeit hat. Der hier gewählte Name gilt, falls es keine weiteren nomenklatorischen Vorgänge gibt, die eine Namensänderung erforderlich machen.
Literatur
Die Erstbeschreibung: Mirjana Roksandic, Predrag Radović, Xiu-Jie Wu und Christopher J. Bae: Resolving the „muddle in the middle“: The case for Homo bodoensis sp. nov. In: Evolutionary Anthropology. Band 30, Nr. 5, 2021, S. 1–10, doi:10.1002/EVAN.21929.
Die Beschreibung des Fundes ohne formale Erstbeschreibung: Glenn C. Conroy, Clifford J. Jolly, Douglas Cramer und Jon E. Kalb: Newly discovered fossil hominid skull from the Afar depression, Ethiopia. In: Nature. Band 276, 1978, S. 67–70, doi:10.1038/276067a0.
Kritik an der Arbeit: Eric Delson und Chris Stringer: The naming of Homo bodoensis by Roksandic and colleagues does not resolve issues surrounding Middle Pleistocene human evolution. In: Evolutionary Anthropology. Online-Vorabveröffentlichung vom 27. Juni 2022, doi:10.1002/evan.21950.