Riesenhai, Basking SharkRiesenhaie sind -zumindest teilweise- Langstreckenzieher, jedoch sehr langsame Schwimmer
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Der zweite Teil des Beitrages zur Seeschlange von Gourock steht hier.

 

Untersuchung einer Geschichte

Rankin gab an, sich an einen Artikel im Scotsman über den Kadaver von Deepdale Holm erinnert zu haben (Mystery of a monster is told, 1980). Dieses spezielle Thema wurde in der Zeitung insgesamt viermal behandelt, beginnend mit kurzen Beschreibungen („Carcase of ‚Monster‘ ‘“, 1942), gefolgt von detaillierteren Berichten, darunter die Identifizierung als Riesenhai. So enthielt „Orkney Monster“ (1942) nicht nur eine Skizze, sondern erwähnte auch die anfängliche Annahme, es könnte sich um einen Plesiosaurier handeln, während „Orkney Monster Carcase“ (1942) dasselbe Foto des Kadavers von Deepdale Holm enthielt, das Rankin später 1942 von Dr. Stephen zugesandt wurde (1942b).

 

Daher erscheint es plausibel, dass er bereits vor seinem Kontakt mit dem Museum über entscheidende Aspekte der üblichen Darstellung solcher Fälle entsprechend Bescheid wusste. Welchen Artikel Rankin aber genau gelesen hat und welchen Einfluss dieser auf seine Aussagen hatte, bleibt leider ungeklärt. Sicher ist letzten Endes, dass Rankin von der Identifizierung als Riesenhai wusste und vor diesem Hintergrund die Ähnlichkeit zwischen den Kadavern von Gourock und Deepdale Holm betonte. Daher wäre es erwartbar gewesen, natürlich dieselbe Identifizierung zu erhalten. Unmittelbar nach Dr. Stephens Antwort lehnte er sie irritierenderweise jedoch ab. Zweifellos zeigten Beschreibung und Skizze eine oberflächliche Ähnlichkeit mit einem Plesiosaurier auf, einer ausgestorbenen Gruppe mariner Reptilien. Fast seit ihrer Klassifizierung als Gruppe und neue Gattung im 19. Jahrhundert (De la Beche, H. &  Conybeare, W., 1821) ist die Möglichkeit des Überlebens der Plesiosaurier ein Gegenstand des Interesses. Dies führte irgendwann weltweit zur Identifizierung des Plesiosauriers als potenzielles See- und Meeresungeheuer, darunter eben auch der Kadaver von Deepdale Holm (Carcase of “Monster”, 1942; Orkney monster, 1942; Fresh light on the mystery of the Holm shore “Monster”, 1942; Land, sea and Loch monsters, 1942; Basking shark or “Scapasaurus”?; Naval author on the “Monster”, 1942).

 

The story of the earth and man - Plesiosaurier
Illustrationen wie aus „The story of the earth and man“ von John William Dawson, 1873, prägen heute noch das populäre Bild der Plesiosaurier

 

Pseudo-Plesiosaurier?

Im Gegensatz zum Überleben einer fossil nicht weiter nachweisbaren und somit als ausgestorben zählenden Gruppe mariner Reptilien, kann jedoch aus den zahlreichen Fällen eines sogenannten „Pseudo-Plesiosauriers“ eine mögliche Identifizierung als verwester Riesenhai abgeleitet werden. Dieser Begriff, der offenbar 1965 vom belgischen (Krypto-)Zoologen Dr. Bernard Heuvelmans erstmals in Druck veröffentlicht wurde, bezeichnet gestrandete Meerestierkadaver, die oberflächliche Ähnlichkeit mit Plesiosauriern aufweisen (beschrieben durch einen kleinen Kopf, einen langen Hals, vier Flossen und einen spitz zulaufenden Schwanz), sich aber letztendlich als stark verweste Riesenhaie entpuppen (zum Beispiel bei Stronsa 1808, Querqueville 1934, Deepdale Holm 1941/42 oder Girvan 1953). Die spezifischen Prozesse die zu diesem Erscheinungsbild geführt haben, werden natürlich in den entsprechenden Quellen dieser Fälle, aber auch in verschiedenen sonstigen Büchern erläutert (beispielsweise Norman & Fraser, 1938; Heuvelmans, 1965; Shuker, 1995b). Beachtenswerterweise auch von Gould (Naval author on the “monster“, 1942; Dinsdale, 1966), und diesbezüglich scheint es lohnend, den genauen Kontext des obenstehenden Zitats im Strathearn Herald (Mystery of a monster is told, 1980) nochmals zu hinterfragen. Die folgende Analyse nutzt Compagno (1990), Izawa & Shibata (1993), Fairfax (1998), Hamlet (1999), Iuliis & Pulerà (2007) und Klimley (2013) für die anatomische Beschreibung und Terminologie des Knorpelskeletts.

 

So entsteht ein Pseudo-Plesiosaurier (Illustration Markus Hemmler), mutmaßliche Synthese des Gourock-Kadavers
So entsteht ein Pseudo-Plesiosaurier (Illustration Markus Hemmler)

Mutmaßlicher Zerfall eines Riesenhai-Kadavers bis zum „Pseudo-Plesiosaurier-Zustand“

 

Es wird allgemein beobachtet, dass viele Bestandteile des Splachnocranium des Hais, wie der Kiefer- oder Mandibularbogen, der Zungen- oder Hyoidbogen, die Kiemenbögen und -strahlen, entweder verschwunden oder zumindest aus ihrer ursprünglichen anatomischen Position hinaus verschoben sind. Infolgedessen sind nur das kleine Chondrocranium und die Wirbelsäule, die sich vom Schultergürtel aus allmählich verjüngt, intakt geblieben. Dies könnte den „kleinen Kopf“ und den „Hals, der sich vom Körper aus verjüngt“ erklären, wie Rankin (1942a; Welfare & Fairley, 1980) es berichtete. Das Vorhandensein von zwei „Noppen“ oder „Beulen“ „auf dem Kopf“ (Rankin, 1942c) weist eventuell auf Reste des linken und rechten dorsolateralen rostralen Knorpels vor den Nasenkapseln hin. Diese Beschreibung lässt jedoch auch die Möglichkeit offen, diese Strukturen als „Beule über den Augen – etwa markante Augenbrauen“ (Welfare & Fairley, 1980) zu beschreiben, die als supraorbitale Ausbuchtungen des Chondrocraniums identifiziert werden könnten. Der Bericht über „keine Knochen außer der Wirbelsäule“ (Rankin, 1942a) weist auf das Fehlen weiterer Skelettkomponenten wie Rippen, Gliedmaßengürtel oder Gliedmaßen hin, die aus Knochen bestehen. Allerdings werden dann doch einige „Knochen“ im Zusammenhang mit dem Schwanz und den vier Flossen erwähnt (Welfare & Fairley, 1980). Ein Haiskelett besteht aus Knorpel, der zum Beispiel dem Schwanz und den Flossen ein „knorpeliges, glänzendes und undurchsichtiges Aussehen“ verleiht, wie es im Fall des Gourock-Kadavers beschrieben wurde. Die Wirbelsäule kann dabei jedoch aufgrund ihrer Präsenz, Konsistenz und eventueller Verkalkung auch „knochiger“ erscheinen. Der „Schwanz [der] sich allmählich vom Körper weg verjüngt“, entspricht der heterocerkalen Schwanzflosse eines Hais, bei der die Wirbel in den oberen Lobus hineinreichen und diesen stützen. Der untere Lobus, bestehend unter anderem aus dünnen und flexiblen Hornstrahlen oder -fäden, den sogenannten Ceratotrichien, verschwindet durch den Zerfall entweder oder ist aufgrund der Zersetzung für den Laien nicht mehr als Lobus erkennbar. Die „parallelen Knochenreihen“ mit dem „fächerartig unter einer dünnen Membran geöffneten Abdruck“ beziehen sich auf verlängerte Hypochordalstrahlen, die die Schwanzflosse stützen. Die „schwanzähnliche Knochenstruktur“ der Vorder- und Hinterflossen entspricht dem ähnlich aussehenden Radialknorpel der Flossen. Anschließend, „am hinteren Rand der Flossen“, befinden sich erneut Ceratotrichien, die als „hartes, borstiges ‚Haar‘“ verglichen werden, das „15 cm lang, spitz zulaufend und an beiden Enden wie eine Stahlstricknadel zugespitzt“ ist.

 

Riesenhai Schottland ca. 1950
Riesenhaie sind in den schottischen Gewässern heimisch und waren bis zur Überfischung recht häufig. Die Aufnahme zeigt einen 1950 in Schottland gefangenen Riesenhai

 

Was bleibt?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Pseudoplesiosaurier eine belastbare Erklärung für die anatomischen Beschreibungen liefert, die sich aus den subjektiven Angaben des Augenzeugen gut ableiten lässt. Es gibt jedoch auch problematische Aspekte einer solchen Identifizierung und weiterhin auch des Augenzeugenberichts, die einer näheren Betrachtung bedürfen:

In Bezug auf den Verwesungsgrad beschrieb Rankin (1942a) den Körper zunächst als „fortgeschritten“, worüber auch die Presse berichtete („Away with the body!“, 1942; „Notes and Notices“, 1942). Später erwähnte Rankin jedoch, er sei „bei weitem nicht so stark verwest“ (1942c). Diese begrenzte Verwesung wird offenbar durch die erläuternden Texte zu seiner Skizze gestützt, die lediglich den Zerfall von Kopf, Flossen und Schwanz erwähnen. Letztendlich zeigte der Körper „keine Anzeichen von Verwesung. Er war absolut vollständig. Unbeschädigt“ (Welfare & Fairley, 1980). Somit hat sich seine Darstellung nach der möglichen Identifizierung als verwester Riesenhai durch Dr. Stephen deutlich verändert. Obwohl eine fehlbare Erinnerung während des Interviews im Jahr 1980 eine Rolle gespielt haben könnte, war sie ansonsten relativ detailliert und bemerkenswert hoch. Die bereits 1942 entstandene Skizze und dazugehörigen Texte, die er während des Interviews zeigte, stützen zudem eindeutig eine Verwesung. Daher erscheint es zumindest fraglich, dass ein signifikantes und bemerkenswertes Detail wie ein „fortgeschrittener Verwesungszustand“ einem Erinnerungsfehler unterlegen sein könnte.

Der zweite problematische Aspekt betrifft die Beobachtung, dass „dem Körper bis auf eine hohle Wirbelsäule jegliche Knochen zu fehlen schienen“ (Rankin, 1942a). Diese Aussage schließt explizit die Möglichkeit einer Identifizierung als Meeresreptil wie dem Plesiosaurier und vieler anderer aquatischer Tiere aus, die über ein Knochenskelett verfügen. Die naheliegendste Schlussfolgerung aus diesem Einwand wäre daher, dass es sich bei dem fraglichen Tier um eines mit Knorpelskelett handelt – wie beispielsweise einem Hai.

Angesichts der Beschreibung großer, spitzer Zähne erscheint es naheliegend, von einer fleischfressenden Haiart auszugehen, da Riesenhaie wie andere filtrierende Haie sehr kleine Zähne besitzen, die nur wenige Millimeter lang sind (Kunzli, 1988; Welton, 2015). Der Begriff „groß“ bezieht sich im Zusammenhang mit dem Gourock-Tier auf die Größe des Endgliedknochens des linken Zeigefingers, wie der Augenzeuge vorführte. (Arthur C. Clarke. „Mysterious World: Monsters of the Deep“ (1980)). Vergleicht man die Gebisse von Weißen Haien unterschiedlicher Größe (Shimada, 2002), lässt sich schlussfolgern, dass es sich bei dem sogenannten „großen“ Zahn in Wirklichkeit um einen kleineren Seitenzahn und nicht um einen größeren Vorderzahn handeln müsste. Unabhängig von der hieraus resultierenden Frage, warum Rankin einen in Relation eher unscheinbaren anstelle eines eindrucksvolleren Zahns wählte, lehnte er grundsätzlich eine Hai-Identifikation aufgrund des Vorhandenseins nur einer einzigen Reihe von Zähnen (die bei Haien beständig ausfallen und ersetzt werden, wobei die neuen Zähne in mehreren sichtbaren Reihen dahinter nachwachsen) ausdrücklich ab (1942c). Eine fleischfressende Haiart ist demzufolge als Identifizierungsoption von vorneherein ausgeschlossen.

 

Skelett eines Weißen Haies Carcharodon charcharias
Skelett eines Weißen Haies aus einer alten Veröffentlichung – hier zeigt sich, wie gering der knorpelige Anteil des Kopfes eines Hais tatsächlich ist und wie wenig die einzelnen Elemente miteinander verbunden sind

 

Nach der obenstehenden Analyse der anatomischen Beschreibungen im Bezug zur Anatomie und Taphonomie des Riesenhais, einschließlich des bereitgestellten physischen Überrests in Form einer Ceratotrichia, wird deutlich, dass die gewonnenen Erkenntnisse eine positive Erklärung für eine solche Identifizierung bieten. Darüber hinaus wird nach Prüfung der Einwände gegen den Augenzeugenbericht und ihrer Auswirkungen auf die Gesamtkohärenz der Geschichte deutlich, dass die plausibelste Erklärung für Charles Rankins Bericht leider eine Kombination aus echten und unechten Beobachtungen und Einschätzungen ist. Daher ist es in diesem Fall wohl angebracht, die Aussagen des Greenock Telegraph und der Gourock Times in dieser Angelegenheit nochmals zu wiederholen: die 1942 in Gourock entdeckten Überreste wurden als die eines stark verwesten Riesenhais (Cetorhinus maximus) identifiziert.

Danksagung

Mein herzlicher Dank gilt Dr. Karl Shuker, Glen Vaudrey, Claire Jaycock, Scott Mardis, Richard Freeman und insbesondere Betty Hendry, Senior Library Assistant der Watt Library, Morven Donald, Library and Information Assistant der National Museums Scotland, und Sarah McLean von Orkney Library and Archive.


Zum ersten Teil des Beitrages zur Seeschlange von Gourock

Von Markus Hemmler

Markus Hemmler ist hauptberuflich als Bürokommunikationsspezialist im öffentlichen Sektor tätig. Sein persönliches Interesse gilt der Geschichte von meist „Cold Cases“ der aquatischen Monster: der Untersuchung und Identifizierung toter Tierkadaver, die als Meeres- oder Seeungeheuer und dergleichen bezeichnet werden. Durch seine Recherchearbeiten hat er nicht nur zahlreiche „Seeungeheuer“-Fotografien aufgespürt, wie etwa die Orkney-Kadaver von Deepdale Holm und Hunda aus den Jahren 1941/42, des südafrikanischen Trunko aus dem Jahr 1924 und seinem „Sohn“ aus dem Jahr 1930. Auch die extensive Aufarbeitung der Geschichte dieser Fälle, darunter des Cape-May-Kadavers von 1921, des Suez-„Seeelefant“ von 1950 und des Gourock-„Monsters“ von 1942. zählen zu seinem Werk. Darüber hinaus hat ermittelt Hemmler mit großem Interesse auch an den wenigen deutschen U-Booten aus dem Weltkrieg, die Verbindungen zu Seeungeheuern haben.