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Am vergangenen Samstag berichteten wir über in den Breaking News über die Erstbeschreibung des Harbin-Schädels als Holotyp von Homo longi. Hier nun die längere Analyse der dazu gehörigen Paper.

 

Die Ausgangslage

In der vergangenen Woche veröffentlichen chinesische Wissenschaftler drei (!) Publikationen, die zunächst ein menschliches Fossil beschrieben, in der zweiten Publikation dann das Fossil als Holotyp einer Menschenart, Homo longi.

 

Sechs Ansichten vom Harbin-Schädel
Der Harbin-Schädel, sechs Ansichten

 

Blickt man hinter die Kulissen, stellt sich eine recht seltsame Gemengelage heraus:

Die Fundumstände

Um Missverständnissen aus dem Weg zu gehen, bezeichne ich das vorliegende Fossil im Folgenden als Harbin-Schädel.

Der Ursprung ist nicht wissenschaftlich belegt, sondern basiert auf der Erzählung des Finders und seiner Nachkommen: Der Finder gibt an, es 1933 bei der Arbeit der Dongjiang-Brücke über den Songhua-Fluss in der chinesischen Stadt Harbin gefunden zu haben. Sie wird auf google-Maps als East Binjiang Bridge bezeichnet.

 

 

Zu dieser Zeit arbeitete er als Vertragsarbeiter für die japanische Besatzungsmacht. Sie hatte den Marionettenstaat Mandschukuo hochgezogen und begann, diesen zum Abbau von Rohstoffen auszubauen. Nach Gründung der Volksrepublik China vermied der Finder alles, um als ehemaliger Vertragsarbeiter erkannt zu werden. Lange Zeit hätte das sein Todesurteil bedeutet.

 

1933 fand er – als Vertragsarbeiter – den Schädel. Der Fund der Peking-Menschen in den 1920ern war damals in China recht bekannt. Daher verbarg der Finder den Harbin-Schädel in einem alten Brunnen, er war von seinem Wert überzeugt. Ob es ihm dabei um den Handelswert oder den wissenschaftlichen Wert geht, bleibt offen. So blieb das Fossil bis zu seinem Tod 2018 in einem alten Brunnen versteckt. Erst die Enkel des Finders bargen ihn und stellten ihn dem Geowissenschaftlichen Museum der Hebei GEO University zur Untersuchung vor.

 

Songhua-Fluss in Harbin
Der Songhua-Fluss bei Harbin im Sonnenuntergang

 

Der Harbin-Schädel

Beim Harbin-Schädel handelt es sich um einen sehr gut erhaltenen, massiven Schädel ohne Unterkiefer. Das Museum der Hebei GEO University führt ihn unter der Sammlungsnummer HBSM2018-000018[A].

 

Harbin-Schädel von links und rechts
Seitenaufnahmen des Harbin-Schädels

 

Der Schädel zeichnet sich durch ein ungewöhnlich großes Innenvolumen von 1420 cm³ aus, das im Schwankungsbereich der Gehirngröße des Neandertalers und des modernen Menschen liegt[1]. Das Gesicht ist kurz und flach, es hat nur kleine Wangenknochen. Diese Merkmale gelten als anatomisch modern, dem Homo sapiens nahestehend.
Anatomisch archaisch hingegen sind eine langgezogene und flache Schädeldecke, ausgeprägte Überaugenwülste und die Form der Augenhöhlen. Auch der einzige erhaltene Zahn, ein M2 (der 2. Backenzahn) ist sehr groß, was an archaischen Homo-Vertretern entspricht. Die erhaltenen Zahnfächer lassen auf große Frontzähne schließen.

 

Zahlreiche Paper

Die Fossil-Beschreibung

Die Beschreibung des Harbin-Schädels und seine Einordnung in einen Stammbaum der menschlichen Fossilien ist die Hauptarbeit. Sie wurde von insgesamt 13 Autoren am 25. Juni 2021 in der online-Zeitschrift „The Innovation“ veröffentlicht.
Die Arbeit ist für die erste Beschreibung (nicht Erstbeschreibung!) eines menschlichen Fossils recht umfangreich.

Sie umfasst nach einer kurzen Einführung in die Sicht der Autoren in die jüngste menschliche Stammesgeschichte. Insbesondere gehen die Autoren auf die weite Verbreitung archaischer Formen und ihre Bedeutung für die Entstehung der Art Homo sapiens ein. Dabei stellen sie bereits den Harbin-Schädel in eine Reihe immer moderner werdender Mosaikformen.

Ein beinahe vollständiger Schädel

Zentraler Teil der Arbeit ist die Beschreibung des Schädels. Er ist nahezu vollständig und intakt, liegt also nicht in Bruchstücken vor. Die Zähne fehlen, bis auf de rechten oberen 2. Backenzahn. Der linke Wangenknochen ist leicht beschädigt. Der Schädel fällt vor allem durch seine Größe auf, so dass die Autoren großen Wert auf den Vergleich von Messwerten mit anderen Fossilien legen. Die Werte wurden auf moderne Weise durch CT-Scans ermittelt.

Trotz seiner Größe ist der Hirnschädel eindeutig archaisch geformt, jedoch fehlen einige Strukturen, die bei Homo erectus sowie H. heidelbergensis / H. rhodesiensis auftreten. Wer hier Details braucht, sei auf die Originalarbeit hingewiesen.

 

Harbin-Schädel
Der Harbin-Schädel von vorne

 

Die Autoren betonen erneut, dass hier ein Mosaik aus modernen Merkmalen wie das flache, H. sapiens-ähnliche Gesicht und das große Hirnvolumen sowie archaischen Merkmalen wie der archaisch geformten Hirnschale vorliegt. Solche Mosaike kennen sie auch von anderen Mittel-Pleistozänen Fossilien aus China. Sie unterscheiden sich morphologisch in Details.

Hier geben sie den ersten Hinweis darauf, dass sie den Harbin-Schädel als Typus einer unbekannten Menschenart sehen.

Viele Messwerte und statistische Analysen

Die Beschreibung des Schädels ergänzen eine ganze Reihe von metrischen Messwerten, auch im Vergleich zu anderen menschlichen Funden. Sie sind nicht im Haupttext, sondern im Anhang aufgeführt. Dies ist aufgrund der gewaltigen Datenmengen mehr als sinnvoll: alleine die reine Auflistung der Messwerte von acht Schädeln (Harbin, Dali, Jinniushan, Mabam Xuchang, Narmada, Broken Hill und Irhoud 1) nimmt mehr als vier Seiten in Anspruch. Es folgen Pooling-Grafiken einzelner Werte und schließlich zwei auf unterschiedliche Weise errechnete potentielle Stammbäume.

 

Phylogenetischer Stammbaum um den Harbin-Schädel
Der in der Publikation erarbeitete „Kompromiss-Stammbaum“ zeigt die chinesische Gruppe als monophyletisch (gelb hinterlegt). Merkwürdig ist die Nähe zu „Homo antecessor“ aus Spanien. Klick für größere Darstellung

 

Beide Stammbäume unterstützen die Annahme, die asiatischen Funde von Harbin, Xiahe, Dali, Jinniushan und Halongdong seien monophyletisch. Sie widersprechen sich jedoch in der Frage, ob diese „asiatische Gruppe“ mit Homo sapiens oder dem Neandertaler monophyletisch ist.

Wer tiefergehendes Detailinteresse hat, dem sei erneut die Originalarbeit ans Herz gelegt.

Lebendrekonstruktion

Rekonstruktion des Harbin-Menschen
Rekonstruktion des Harbin-Menschen. Von vorne wirkt er düster.

 

Mittlerweile gehört bei der Beschreibung eines „neuen“ menschlichen Fossils auch eine Lebendrekonstruktion dazu. Die Wissenschaftler gehen hier von einem etwa 50 Jahre alten, erwachsenen Mann aus. Die Rekonstruktion ergibt einen erstaunlich menschlich aussehenden, Mann mit dickem Überaugenwulst und buschigen Brauen. Die Haut- und Haarfarbe entsprechen etwa der eines Bewohners des östlichen Mittelmeerraumes. Die Nase ist massig und breit, Lachfalten scheinen von Humor zu sprechen. Der Schädel erscheint lang und flach, trotz der wilden Frisur, die sogar der aktuellen Mode des Mittelpleistozän etwas entwachsen scheint.

 

Rekonstruktion des Harbin-Menschen
Der Harbin-Mensch von der Seite. Man meint, er habe Humor.

Die phylogenetische Position

Zur Ermittlung der phylogenetischen Position des Harbin-Schädels wurden 55 Fossilien der Gattung Homo miteinander verglichen. Die Bayesische Analyse widerspricht in einigen Punkten der aktuellen Ansicht über die Abstammung und Monophylie im menschlichen Stammbaum.
In dieser Arbeit gingen die Wissenschaftler von fünf monophyletischen Gruppen aus, der H. erectus-Gruppe, der H. heidelbergensis / rhodesiensis-Gruppe, der Neandertal-Gruppe, der Harbin-Gruppe und der H. sapiens-Gruppe. Die Homo erectus-Gruppe und die H. heidelbergensis / rhodesiensis-Gruppe haben sich dabei als nicht monophyletisch erwiesen.

 

asiatische Schädel von Homo-Funden
Vier der fünf im Text zitierten Funde asiatischer Homo-Formen. Nicht maßstäblich und in willkürlicher Reihenfolge. Klick zum Vergrößern.

 

Wichtiger ist jedoch, dass auch hier die Funde von Jinniushan, Hualongdong, Dali, Xiahe und Harbin monophyletisch clustern. Diese Gruppe steht mit dem recht alleine stehenden Steinheim-Fund sowie einer kleinen „Antecessor-Gruppe“ ziemlich mittig zwischen der Neandertaler- und der Homo sapiens-Gruppe.

 

Die Wissenschaftler ziehen hieraus den Schluss, dass die asiatische Kladde um den Harbin-Schädel eine Schwestergruppe zu Homo sapiens gebildet hat. Ebenso schließen sie aus den Analysen, dass die Funde von Xiahe und Harbin in einem Schwestergruppenverhältnis zueinander stehen. Dies ist derzeit nicht nachzuvollziehen, da von Xiahe nur ein unvollständiger Unterkieferast, von Harbin jedoch ein Schädel ohne Unterkiefer bekannt sind.

 

Im nachfolgenden Kapitel zeigen die Autoren der Studie, dass die Funde der asiatischen Kladde tatsächlich nur in Ost- und Zentralchina gefunden wurden. Die Fundorte der anderen, verglichenen Fossilien werden nach Gruppen verteilt auf eine Karte der „alten Welt“ aufgetragen. Neue Erkenntnisse ergeben sich m.E. nicht.

 

Die Erstbeschreibung

Die formale Erstbeschreibung des Homo longi als neue Art folgte direkt in der selben Ausgabe des online-Magazins The Innovation. Sie ist erstaunlich kurz, kann sie auch sein, denn sie bezieht sich in wesentlichen Teilen auf die vorhergehende Beschreibung des Fossils. Holotyp ist der Harbin-Schädel, weiteres Typusmaterial gibt es nicht.

 

Der Artname longi ist der Provinz Heilongjiang gewidmet, die üblicherweise Long Jiang, Drachenfluss, genannt wird. Typusfundort ist „nahe der Donjiang-Brücke in Harbin“.

 

Die Diagnose ist kurz und bezieht sich auf zahlreiche, von anderen Schädeln abweichende Messwerte, jedoch werden diese nur qualitativ aufgeführt. Für tiefergehendes Interesse: Erstbeschreibung.

Der Vergleich mit verwandten Arten ist ausführlicher und insbesondere innerhalb der chinesischen Fundgruppe interessant. Vom Dali-Menschen unterscheidet sich der Habin-Schädel durch den fehlenden Schädelkamm, größere, fast quadratische Augenhöhlen, jedoch generell einen leichteren, moderneren Knochenbau. Der Jinniushan-Schädel hat nahezu die selbe Kapazität, ist aber graziler. Der verbliebene Zahn des Harbin-Schädels ist größer.

Die Funde von Hualongdong und Dali unterscheiden sich vom Harbin-Schädel durch einen stärkeren Schädelkamm und robustere Gesichtsknochen. Hualongdong zeigt zudem ein flacheres und längeres Gesicht und eine flachere Nase als Dali und Harbin. Insgesamt, so die Autoren, zeigt der Dali-Schädel große Ähnlichkeit mit dem Hualongdong-Schädel, beide gehören vermutlich einer Art an. Der Harbin-Schädel zeige jedoch deutliche diagnostische Merkmale, um eine andere Art zu repräsentieren. Die mathematische Schwestergruppen-Einteilung mit Xiahe lässt es möglich, dass beide Funde der selben Art angehören.

 

Die Bestätigung des Fundortes

Die Angaben zu den Fundumständen können einige an der Hauptarbeit beteiligte Wissenschaftler in einer ergänzenden Studie soweit bestätigen, wie es wissenschaftlich möglich ist. Die Strontium-Isotopenverteilung des Harbin-Schädels entspricht denen anderer Säugetier-Fossilien von diesem Standort. Ebenso konnten sie das Alter mittels der Uran-Thorium-Methode direkt auf 148.000 ± 2000 Jahre bestimmt werden.

 

Kritik

Die Arbeit stieß in Fachkreisen sehr schnell auf Kritik. Insbesondere die sich widersprechende Analyse der Schwestergruppenverhältnisse zwischen der Harbin-Kladde, der Neandertal-Gruppe und Homo sapiens-Gruppe fiel auf.

 

Hinzu kommt die vollständig fehlende genetische Analyse. Menschliche Fossilien sind selten. Sie sind sich insgesamt sehr ähnlich, aber unterscheiden sich in Details oft sehr. Dazu kommt, dass die Detailunterschiede derzeit nicht vollständig verstanden sind. Daher ist eine definitive phylogenetische Einordnung eines Fossils ohne genetische Analyse kaum denkbar.

 

Erstbeschreibungen an einem Exemplar sind problematisch

Ein weiterer, sehr wesentlicher Kritikpunkt ist die Tatsache, dass hier ein einzelnes Fossil als Grundlage einer Erstbeschreibung einer menschlichen Art herangezogen wird. Hierdurch sind keinerlei Variationsbreiten innerhalb dieser Art definierbar. Dies macht die Abgrenzung zu anderen Arten ist de facto unmöglich.

Laut Co-Autor der Fossil-Beschreibung, Chris Stringer hätte die Arbeit in einer der „beiden großen“ Fachzeitschriften, Nature oder Science erscheinen sollen. Doch die Redaktion forderte im Peer-Review-Verfahren sehr umfangreiche Änderungen am Text ein. So gab man das Vorhaben auf und publizierte es in „The Innovation“. Hierbei handelt es sich um eine online-Zeitschrift, die in Kooperation mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird.[2]

Offenbar sahen das auch viele der Autoren der Fossil-Beschreibung so. Die Erstbeschreibung hat statt 13 nur fünf Autoren.

 

Auch inhaltlich folgt Stringer vom Natural History Museum in London der Erstbeschreibung nicht: „Die Verwandtschaftsanalysen waren solide, ich würde das aber nur eine Hypothese nennen, mit der wir arbeiten können.“, sagte er dem ORF und verwies auf die fehlende genetische Analyse, mit der er in den nächsten Jahren rechnet. Er sieht zudem eine große Ähnlichkeit mit dem Dali-Menschen. Dieser wurde 1978 gefunden und zunächst als Homo sapiens daliensis beschrieben. Sein Name hätte also Priorität.

Jean-Jacques Hublin, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig stellte bereits im April 2020 den Harbin-Schädel in die Nähe der Denisova-Menschen.


Literatur:

 Erstbeschreibung: Qiang, J., Wensheng, W. et al.: Late Middle Pleistocene Harbin cranium represents a new Homo species. The Innovation. 2021; 2 DOI: https://doi.org/10.1016/j.xinn.2021.100132

Fossil-Beschreibung: Xijun, N., Qiang, J. et al.: Massive cranium from Harbin in northeastern China establishes a new Middle Pleistocene human lineage. The Innovation. 2021; 2 DOI https://doi.org/10.1016/j.xinn.2021.100130

Fundort-Analyse: Shao Q., Ge J., Ji Q. et al.: Geochemical locating and direct dating of the Harbin archaic human cranium. The Innovation. 2021; 2 DOI: https://doi.org/10.1016/j.xinn.2021.100131

Czepel, R.: Alles neu im Stammbaum des Menschen? https://science.orf.at am 27.6.2021

Alle Abbildungen aus den Publikationen in „The Innovation“ unterliegen der Creative Commons Attribution – NonCommercial – NoDerivs (CC BY-NC-ND 4.0)


[1] Das Hirnvolumen des modernen Menschen liegt bei durchschnittlich 1336 cm³ für Frauen und 1446 cm³ für Männer. Bei Neandertalern sind 1200 bis 1750 cm³ bekannt, im Mittel liegen sie bei 1400 cm³.

[2] Einigen Kryptozoologen wird dieses Verfahren vom berüchtigten „Ketchum-Paper“ bekannt sein. Die Autorin Melba Ketchum hat Haarproben untersucht, die angeblich vom Sasquatch stammten. Dabei sind ihr und ihren Laboranten einige Fehler unterlaufen, die dafür sorgten, dass keine etablierte Fachzeitschrift das Paper annahm. Sie gründete daher für diese Veröffentlichung eine eigene Zeitschrift.


Erstveröffentlichung dieses Beitrages: 01.07.2021

Von Tobias Möser

Tobias Möser hat Biologie, Geologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schon als Kind war er vor allem an großen Tieren, Dinosauriern, später Walen interessiert. Mit der Kryptozoologie kam er erst 2003 in näheren Kontakt. Seit dieser Zeit hat er sich vor allem mit den Wasserbewohnern und dem nordamerikanischen Sasquatch befasst. Sein heutiger Schwerpunkt ist neben der Entstehung und Tradierung von Legenden immer noch die Entdeckung „neuer“, unbekannter Arten. 2019 hat er diese Website aufgebaut und leitet seit dem die Redaktion.